2005 -2



Tenor Peter Schreier bei letztem Konzert gefeiert
Frohlocken zum Abschied
Peter Schreier nimmt Abscheid ohne Wehmut
Die Engel strahlen wieder
Peter Schreier
«Tutto ha origine in Bach». Parola di Peter Schreier
"Wie sehr diese Matthäus-Passion Teil meines Lebens ist"
Der Moment, in dem die Legende der Peter Schreier-Lieder vollendet
Peter Schreier Farewell Concert
Schreier auf der Alpe
Les Adieux
Auch beim Plaudern bei bester Stimme
Ich schließe meine Augen und kann doch alles sehen
Da tuckert’s mächtig




 
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Mehr als 200 Zeitungen 23.12.2005
Tenor Peter Schreier bei letztem Konzert gefeiert
Prag. Der Tenor Peter Schreier hat am Donnerstagabend mit einem Konzert in Prag Abschied als Lied- und Oratoriensänger genommen. Zum Abschluss seiner Karriere sang der 70-Jährige im ausverkauften Dvorak-Saal des Rudolfinums das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach.

Nach rund zwei Stunden ging Schreier unter dem Applaus der etwa 1100 Besucher sichtlich gerührt letztmals als Interpret von der Bühne. Künftig will der gebürtige Sachse der Musik als Dirigent verbunden bleiben. «Ich nehme ohne Wehmut Abschied und schaue mit großer Vorfreude auf eine gewisse Erleichterung», hatte Schreier vor dem Konzert gesagt. Bereits im Jahr 2000 hatte er seine Laufbahn als gefeierter Opernsänger beendet. (dpa)

Peter Schreier, Prag(ue), 21.12.2005
Peter Schreier, Prag(ue), 21.12.2005 Peter Schreier, Prag(ue), 21.12.2005
Peter Schreier, Prag)ue', 21.12.2005 Peter Schreier, Prag)ue', 22.12.2005  
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Sächsische Zeitung
22.12.2005
Frohlocken zum Abschied
Der Tenor Peter Schreier gestaltet heute in Prag sein letztes Konzert als Sänger – als Dirigent bleibt er der Musik treu.

"Ach Leute, das soll höchste Freude sein? Schlaft ihr noch?“ Wieder und wieder unterbricht Peter Schreier am Dienstag die Probe im Prager Konzerthaus Rudolfinum. Diesmal korrigiert er den Chor, der die fröhliche, eigentlich mitreißende Eröffnung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach etwas lahm singt. Schreier, Tenor und Dirigent der Aufführung, macht es vor: „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“, erhebt er kraftvoll seine Stimme. Der Prager Kammerchor und die Tschechische Philharmonie wiederholen. Der Startenor nickt und beginnt als Evangelist die Weihnachtsgeschichte zu singen: „Es begab sich…“. Zum letzten Mal agiert der 70-Jährige heute Abend in dieser Doppelfunktion – Peter Schreier beendet seine über fünf Jahrzehnte dauernde Karriere als Sänger. Künftig will er nur noch als Dirigent in Erscheinung treten.Seit Wochen ist das Konzert im Saal des markanten Neo-Renaissance-Gebäudes ausverkauft. Die Karten gab es zu moderaten, auch für Tschechen noch erschwinglichen Preisen zwischen 110 und 600 Kronen (etwa 3,5 und 20 Euro). Und doch werden viele der 1148 Plätze mit angereisten Musikfreunden aus Dresden, Berlin oder Wien besetzt sein. So wie Sabine Mesech aus Dresden, die es noch einmal „genießen will, wenn Peter Schreier immer wieder neu und beeindruckend Musik gestaltet“. Seit vier Jahrzehnten besucht die heute 50-Jährige seine Konzerte. „Er ist für mich der wahrhaftigste Evangelist“. Sabine Mesech bedauert, dass der Sänger aufhört. „Verschleißerscheinungen habe ich bei ihm noch nicht bemerkt.“ Gerade deshalb hält Peter Schreier unverändert den Zeitpunkt für optimal. „Stimmlich könnte ich sicher weiter machen. Aber den ganzen Körper für solchen Auftritt immer wieder hochpuschen, das ist mit 70 nach dem Dauerstress der vergangenen Jahrzehnte kein Vergnügen.“

Zufälliger, idealer Endpunkt
Nicht ganz optimal hingegen dürfte Prag als Auftrittsort sein. Zumindest waren Chor und Orchester in den Proben noch lange nicht bei Bach angekommen. „Die Tschechen sind eben Romantik-Spezialisten“, sagt Schreier. Er kennt die Ensembles seit langem und gewinnt dem Ganzen etwas ab. „In Dresden wäre so ein Konzert wohl Routine geworden, in Prag ist es Arbeit, da bleibt man munter.“ Wieso die Stadt an der Moldau als Schlusspunkt? Zufall: Vor zweieinhalb Jahren hatte die Tschechische Philharmonie um ein Konzert mit Schreier gebeten. Erst danach fiel die Entscheidung zum Aufhören.

Prag ist die letzte Station einer Schreier-Tournee: Das Weihnachtsoratorium hat er zuvor in Essen und Zürich gemacht, zur Schubertiade in Hohenems seinen letzten Liederabend gegeben. „Ich habe mein Soll erfüllt. Nun will ich endlich Zeit für die Familie haben.“Wären da nicht die vielen Angebote an den Dirigenten Schreier. Demonstrativ klappt der seine abgewetzte Bach-Partitur zu: „Ich arbeite künftig wohldosierter. Schon im Februar und Mai 2006 habe ich keine Konzerte und Jury-Einsätze. Das muss herrlich sein.“ (......) B.K.


Dutzende von Zeitungen 20.12.2005
Peter Schreier nimmt Abschied ohne Wehmut
Der Tenor Peter Schreier will nach seinem letzten Konzert als Sänger an diesem Donnerstag in Prag nie mehr als Interpret auf der Bühne stehen. «Für Künstler ist die Euphorie nach dem Auftritt zwar eine Droge, aber dass ich rückfällig werde, schließe ich absolut aus», sagte der 70-jährige Sänger und Dirigent der dpa. Schreier singt zum Abschluss seiner Karriere in der tschechischen Hauptstadt Bachs Weihnachtsoratorium: «Ich nehme ohne Wehmut Abschied und schaue mit großer Vorfreude auf eine gewisse Erleichterung. Man muss den Mut haben zu sagen: "Das war's.".»Das Singen habe ihm «alles gegeben», sagte der gebürtige Sachse: «Aber es hat mir Entbehrungen und Disziplin abverlangt, so dass mir das Aufhören auch leicht fällt.» Er werde nach seinem letzten Konzert mit Freunden und Verwandten feiern und künftig «mal so richtig lockerlassen»: «Meine Frau und ich freuen uns auf eine Zeit mit weniger Anspannung.» Als Dirigent bleibt er zwar der Musik verbunden. «Aber ich werde den Stress als Sänger sicher nicht durch neuen Stress als Dirigent ersetzen. Meine Einsätze werden überschaubar sein und wohldosiert», unterstrich Schreier.Dass er in Tschechien seinen Abschied als Lied- und Oratoriensänger nehme, habe sein Terminkalender so ergeben, betonte der Kammersänger, der bereits im Jahr 2000 seine Laufbahn als gefeierter Opernsänger beendet hatte: «Es ist aber vielleicht ganz gut, dass es nicht Dresden oder Berlin ist, denn das wäre fast Routine. Hier in Prag ist es Arbeit und kein Geschenk, das stachelt mich an.» Den Zeitpunkt seines Karriereendes findet er optimal: «Es ist im Alter schwieriger, einen Ruf zu verteidigen, und ich möchte nicht, dass die Leute irgendwann sagen: "Das hätte er mal besser gelassen."»



Sächsische Zeitung
17.12.2005
Die Engel strahlen wieder
Altarsanierung

Rödertal. Als Kind bekam Star-Tenor Peter Schreier Schnittenpakete in Großerkmannsdorf. Nun half er mit, den Kirch-Altar zu sanieren.

Man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Mindestens. Beim Dresdner Star-Tenor Peter Schreier und der Kirche in Großerkmannsdorf ist das zumindest so. Denn der berühmte Sänger hat schon als „kleiner“ Kruzianer mit dem Dresdner Kreuzchor in Großerkmannsdorf gesungen. 1948 war das.

Peter Schreier, 1948.
Peter Schreier, 1948

Und es war die Zeit, in der in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der Hunger groß war. Und so „tingelten“ die Kruzianer damals des Öfteren über die Dörfer rings um die Elbestadt. Denn dort gab’s dann von den Bauern ein Kaffeetrinken und nach dem Konzert in der Dorfkirche bekamen die Sänger-Knaben noch dicke Schnittenpakete mit auf den Heimweg nach Dresden. Und so hatte der Star-Tenor Peter Schreier auch gern zugesagt, als ihn die Großerkmannsdorfer Kirchgemeinde in den vergangenen Jahren gebeten hatte, ob er zu Benefizkonzerten nach Großerkmannsdorf kommen könnte, weil in der Kirche dringend der barocke Altar saniert werden musste. Zwei Mal war Schreier da; zwei Mal trat er auf, ohne Geld zu verlangen. Und noch heute holt der Großerkmannsdorfer Pfarrer Dr. Martin Beyer die mit Autogrammen versehenen Plakate gern aus seinem Schrank. „Durch Konzerte – nicht nur die mit Peter Schreier – haben wir rund 5 000 Euro für die Altar-Sanierung eingespielt“, freut sich der Pfarrer. Ein wichtiger Baustein, um die Kosten für die Sanierung zusammen zu bekommen. (.....) Jetzt erstrahlt der Großerkmannsdorfer Altar also wieder in alter Schönheit. „Ein Grund, richtig froh zu sein“, freut sich der Pfarrer. Und bestimmt kommt auch Peter Schreier mal wieder her, vielleicht nicht zum Singen, aber zumindest zum Schauen…... J.F.



Ongaku no tomo November 2005
Das Gesicht vom November 2005-Heft
Peter Schreier


Peter Schreier in Japan, 01/02 2005

Peter Schreier wurde am 29.07.1935 geboren, d.h., er wurde in diesem Jahr 70 Jahre alt. Schreier, der seit über 40 Jahren die Welt der deutschen lyrischen Tenöre führte, verabschiedet sich von japanischen Fans mit den Liederabenden auf Japantournee im November.Ich erinnere mich noch heute, als ob es gestern gewesen wäre, an Schreiers frischen Gesang, den er uns auf seiner ersten Japan-Tounee mit Schuberts "Die schöne Müllerin" im Hibiya-Kôkaido-Saal zu hören gab. (Auch daran, dass Walter Olbertz den letzten Akkord des ersten Liedes "Das Wandern" verspielte.) Schreiers Gesangskunst, die von Dezenz und Würde ist, zeigte einst auch Tendenz zum dramatischen parlando-artigen Ausdruck eine Zeit lang, als ob er von Fischer-Dieskau beeinflusst würde. Das erfolgreichste Beispiel davon war wahrscheinlich "Die schöne Müllerin" zu Konrad Ragossnigs Gitarre am Anfang 1980er Jahre. Es gab auch Zeiten, in den er sein Repartoire erweiterte und Charaktertenorrollen wie z.B. Mime in "Ring des Nibelungen" sang, während er auch eine Dirigentenlaufbahn einschlug.Für mich persönlich ist der eine Liederabend unvergesslich, den ich 1983 Spätherbst in Bremen hörte, als ich mein Auslandsstudium mit Sprachkurs in Deutschland begann. Zu den kleinen Schumann-Liedern als Zugabe - der Gesang war schön und drang tief in die Herzen der Zuhörer - kamen Zurufe aus dem Publikum "Danke!". Dieses Gefühl von passte wirklich zu seinem Gesang. Das Wort "Danke!" passte noch besser als "Bravo!" - das gerade ist das Wesen des Deutschen Liedes, lernte ich an diesem Tag von Schreiers Gesang und von seinem Publikum. Mit dem Älterwerden änderte Schreiers Gesangsstil mit Dramatik von einst wieder zum Gesangsstil mit Dezenz zurück. Aber die innere Sympathie zur Musik ist nicht die "Grüne" von jungen Tagen, sondern wurde zur "Reifen". Der letzte Liederabend wird sowohl Abschied von diesem Jahrhundertmeistersänger als auch umfassendes Gesamtwerk seines langen Künstlerlebens sein.
KOKUDO Jun'ichi (.......)
:: Übersetzung: Akemi Steinböck, Wien


Corriere del Mezzogiorno 25.11.2005
«Tutto ha origine in Bach». Parola di Peter Schreier
Il celebre musicista tedesco, direttore e anche tenore, in concerto domani a San Nicola per la Fondazione lirica

Bari. Gentile nei modi, severo musicalmente. E’ il ritratto più immediato che al primo impatto suggerisce Peter Schreier, un gigante della musica, che si tratti di dipingerlo come tenore o direttore d’orchestra. In entrambi i casi la musica è una questione di rigore, come una cantata o una suite per violoncello di Bach. «Perché tutto ha origine in Bach», dice il musicista tedesco, che ha già festeggiato sessant’anni di carriera avendo debuttato a soli nove anni come uno dei tre Geni nel Flauto magico di Mozart, l’autore (del quale nel 2006 si celebrano i duecentocinquant’anni dalla nascita) che gli regalerà le maggiori fortune come cantante ma anche in veste di direttore. «Lo stesso Mozart è impensabile senza Bach», aggiunge Schreier, che riconosce la lezione del Kantor di Eisenach soprattutto nel Davide penitente, rara pagina oratoriale del genio di Salisburgo che domani dirigerà - per il primo grande concerto della stagione della Fondazione Petruzzelli - sul podio dell’Orchestra sinfonica della Provincia e del Coro l’Opera, solisti i soprani Annette Dasch e Christina Landshamer e il tenore Martin Petzold. L’appuntamento con Peter Schreier, che nella prima parte della serata proporrà di Mozart anche il Kyrie in re minore KV 341, è nella basilica di San Nicola. L’artista l’ha già visitata e l’ha trovata «very beautiful», bellissima. Ha anche avuto modo di verificarne l’acustica? «Non ancora. In basilica abbiamo soltanto una breve prova prima del concerto. Confesso di avere una certa paura che il mio fraseggio possa disperdersi in questo tipo di ambiente». Una volta i maligni dicevano che molti cantanti non sanno leggere la musica, anche se la sua esperienza dimostra l’esatto contrario. Ma lei ne ha mai incontrati? «Posso dire che oggi non se ne incontrano più». Risposta diplomatica. Ma da cantante, qual è la sua visione d’assieme quando si trova sul podio? «La mia visione è, appunto, molto “cantata”. Quando voglio far capire all’orchestra una nuance particolare di una frase, la canto. Da questo punto di vista mi sento molto italiano, perché soprattutto da voi i musicisti provengono dalla cultura vocale». Le piace ancora cantare? «Molto, ma a settant’anni è ora di smettere. Non sono mica Pavarotti… (dice con tono scherzoso, ndr)». E’ vero che predilige il lied a qualsiasi altra forma vocale? «Sì, è vero, ho un particolare amore per questo genere tipicamente austro-tedesco. Madevo dire che anche in Italia il pubblico lo apprezza molto. Posso affermarlo perché ho riscontrato molto interesse in occasione dei concerti che ho tenuto a Perugia, Roma e Firenze. E ci sono anche molti cantanti italiani che lo frequentano volentieri». Lei ha cantato sotto la direzione di Furtwängler, Koopman, Kempe e Karajan, tanto per fare qualche nome. Come ha sintetizzato queste esperienze quando ha deciso di prendere in mano la bacchetta? «Una volta ho diretto il Don Giovanni ad Amburgo emi sono permesso di fare alcune cose diverse da Karajan. Mi hanno subito rimproverato dicendomi che avrei dovuto prendere esempio dalla sua interpretazione. Ma questo è un gioco pericoloso. Perché se si hanno nella testa i direttori famosi, a farne le spese è la propria rappresentazione della partitura musicale. E io, nella mia attività di direttore d’orchestra, ho sempre messo avanti le mie idee. Ciò non toglie che dai grandi direttori abbia imparato molte cose buone, ma anche molte cose da non fare». Perché ad un certo punto ha scelto la direzione d’orchestra? Cantare non le bastava? «Mi sembrava troppo poco, volevo fare di più. Così, un giorno ho deciso di dedicarmi alla direzione, che peraltro avevo studiato alla Musikhochschule di Dresda. E l’ho fatto attraverso Bach e Mozart, i miei preferiti». Ci sono autori che le fanno “paura”? «Sì: Wagner, Bruckner e Verdi. Non avrei proprio il coraggio di affrontarli». F.M.


GewandhausMagazin
Nr. 47, Sommer (Juni) 2005
"Wie sehr diese Matthäus-Passion Teil meines Lebens ist"
Am 29. Juli 2005 kann Peter Schreier 70. Geburtstag feiern. Unglaublich!, möchte man meinen, denn noch immer kann man ihn als großartigen lyrischen Tenor erleben. Doch am Jahresende will er, nachdem er sich bereits von der Opernbühne verabschiedet hat, auch allen anderen öffentlichen Sangesstätten Adieu sagen. – Wir sprachen mit dem Kammersänger und Dirigenten nicht zuletzt über die Bachschen Evangelistenpartien, die er markant wie wohl kein anderer zuvor ausgefüllt hat.

Herr Professor Schreier, zur Herbstmesse 1948 gastierte der Dresdner Kreuzchor in Leipzig. Auf dem Programmzettel des Konzertes steht an hervorgehobener Stelle als "Knaben-Solostimme: Kruzianer Peter Schreier". Das war Ihr Leipzig-Debüt. Welche Bedeutung hat Dresdens "Konkurrenzstadt" für Sie gehabt?


Peter Schreier: In meiner Kreuzchorzeit haben wir Kruzianer die Leipziger immer etwas beneidet. Sie hatten den großen Johann Sebastian Bach, und wir hatten "nur" Heinrich Schütz. Dadurch war für uns der Thomanerchor fast unerreichbar. Aber auch sonst war Leipzig in unseren Augen die attraktivere Stadt, weil sie die Messe hatte und mehr im Mittelpunkt stand als Dresden.

Hängt damit auch zusammen, dass Sie nach dem Abitur Gesangsunterricht in Leipzig nahmen?


Schreier: Nein. Rudolf Mauersberger hatte mich an Fritz Polster in Leipzig vermittelt. Ich wollte durch den privaten Unterricht bei ihm um ein staatliches Studium herumkommen. Deshalb bin ich immer nach Leipzig gefahren, während ich meinen Unterhalt verdiente durch Assistenztätigkeiten beim Kreuzchor. Dort war ich die letzten drei Jahre ja schon Chorpräfekt gewesen, also so eine Art musikalischer Assistent. Als solchen wollte mich Mauersberger auch nach meinem Schulabgang behalten.

Am Palmsonntag 1956 sangen Sie in Bremen erstmals den Evangelistenpart in Bachs Matthäus-Passion und vier Tage später gleich noch einmal in der Dresdner Kreuzkirche, hier unter Leitung von Rudolf Mauersberger. Bei dieser Aufführung jedoch brachen Sie total ein – im zweiten Teil war die Stimme weg. Welche Konsequenzen hatte das?

Schreier: Den Evangelisten in der Matthäus-Passion zu singen, das war für mich ein Traum. Jahrelang habe ich als Kruzianer die Evangelisten mehr oder weniger bewundert und gedacht, ›das müsstest du auch mal können‹. 1955 hatte ich bereits den Evangelisten in der Johannes-Passion gesungen, und nun traute ich mir zu, ihn auch in der Matthäus-Passion singen zu können. Fritz Polster hätte mich davon abhalten oder mindestens warnen müssen.
Mauersberger wiederum nahm mir übel, dass ich dann auch noch die Karfreitagsaufführung absagte. Er hatte überhaupt kein Verständnis für mein Versagen. Ich war jahrelang unter seinen Fittichen gewesen und hatte immer seinem Ideal entsprochen. Plötzlich ging es nicht mehr so, wie er es wollte. Das führte zu einem Bruch zwischen uns, der etwa zwei Jahre bestehen blieb. Aber das hatte auch sein Gutes: Ich habe mich in dem Moment erst einmal vom Kreuzchor gelöst. Und ich entschied mich dann doch für ein reguläres Studium, sang an der Dresdner Musikhochschule vor und wurde aufgenommen.

In der Zeit bis zum Studienbeginn im Herbst 1956 sangen Sie im Rundfunkchor Leipzig mit. War das nur eine Art Pausenfüller für Sie?

Schreier: Ganz und gar nicht! Herbert Kegel war ein toller Chorleiter, bei dem ich eine Menge gelernt habe und wo ich immer wieder ins Staunen geriet, was man alles aus einem Chor herausholen und wozu man ihn befähigen kann.

In der Karwoche 1961 haben Sie erstmals in der Leipziger Thomaskirche den Evangelisten in der Matthäus-Passion gesungen. Nun hätte man denken können, dass das nur ausnahmsweise geschah, weil Sie sich zuerst den Passionsaufführungen in Dresden verpflichtet fühlten. Doch Ihr Gastspiel 1961 blieb keine Ausnahme. Hatte Dresden seit dem Missgeschick von 1956 die schlechteren Karten?

Schreier: Nein, das hatte damit gar nichts zu tun. Die Leipziger waren in Sachen Organisation einfach schneller und professioneller. Hinzu kam, was ich bereits sagte: Für uns war die Thomaskirche das Ziel aller Wünsche. Und Leipzig stand gerade in Bezug auf die Bachsche Musik mehr im Mittelpunkt als Dresden. Der Rundfunk übertrug aus der Thomaskirche; dort war es viel repräsentativer.

In Dresden war Rudolf Mauersberger Kreuzkantor, in Leipzig sein jüngerer Bruder Erhard Thomaskantor. Wie haben Sie die beiden im Vergleich gesehen?

Schreier: Von der ganzen Persönlichkeit her war Rudolf für mich der Prägendere und Präsentere. Erhard war der Menschlichere, Weichere. Musikalisch jedoch war er eher der brave Kantorentyp. Rudolf hatte wesentlich mehr Temperament, allerdings auf Kosten anderer Dinge. Wenn ich mir heute alte Aufnahmen anhöre, da ist vieles ziemlich unpräzise. Aber er hatte einen untrüglichen Klangsinn sowie ein Gespür für die Auswahl von Knabensolisten und die Zusammenstellung von Stimmgruppen. Ich glaube, es war zeitweilig ein Vorteil des Kreuzchores gegenüber dem Thomanerchor, dass die Stimmen metallischer waren, knabenhafter. Was ich heute beim Kreuzchor ein bisschen vermisse. Gute Pädagogen waren sicher beide nicht. Heute jedoch, wo wir gut ausgebildete Chorpädagogen haben und alles sehr akkurat ist, fehlt ein Schuss Temperament.

Sie haben nicht nur als Evangelist in den Bachschen Passionen und im Weihnachtsoratorium sehr oft in Leipzig gesungen, sondern auch in Liederabenden sowie als Solist in Orchesterkonzerten, so dass Sie beinahe regelmäßig jedes Jahr in Leipzig aufgetreten sind. In welchen anderen Städten sind Sie ebenso häufig zu Gast gewesen?

Schreier: In Wien war ich vielleicht noch öfter als in Leipzig – in der Oper, im Musikverein und im Konzerthaus.

In Dresden sind Sie immer zu Hause gewesen, auch musikalisch. In Berlin waren Sie jahrzehntelang Ensemblemitglied der Staatsoper. In Wien und Leipzig hatten Sie regelmäßig Auftritte. Wie fällt da ein Vergleich der Orchester aus, mit denen Sie in diesen Städten zusammengearbeitet haben?


Schreier: Die großen Orchester der vier Städte haben alle ihr eigenes Klangideal und sind daran, wenn man sie sehr oft hört, auch unterscheidbar. Bei den Wiener Philharmonikern besitzen die Streicher einen sehr warmen, satten Klang. Gerade bei Bach jedoch war man dort nicht unbedingt gewillt, mehr auf Artikulation zu achten, sondern es wurde sehr schön détaché musiziert. Was ja anfänglich auch in Leipzig so war. Es waren aus meiner Erfahrung zuerst Musiker der Dresdner Staatskapelle, die auf Fragen der Artikulation eingingen. Dann zogen die Leipziger mit dem Neuen Bachischen Collegium Musicum nach, während das Bachorchester immer noch ein bisschen konservativ blieb (ich weiß nicht, wie es heute ist). Die Berliner Staatskapelle kam diesbezüglich für mich an letzter Stelle, wobei das heute längst nicht mehr gilt.

Trotz allen überwiegend guten Erinnerungen an die Zeit als Kruzianer haben Sie Ihre beiden Söhne nicht in den Chor gegeben. Halten Sie einen solchen Knabenchor noch für zeitgemäß?


Schreier: Ja, unbedingt. Ich finde, man muss lernen, sich in einer Gemeinschaft unterzuordnen. Man kann nicht ständig nur an sich denken und seinem Individualismus frönen, sondern muss auch den Rahmen sehen, in dem man sich bewegt. Das, glaube ich, habe ich im Kreuzchor gelernt.
Was uns sehr geprägt hat, war gewiss die schlechte Zeit nach dem Krieg. Als ich 1945 in den Chor kam, gab es noch keine funktionierende Schule. In der Zeit von Juni bis November oder Dezember wurde nur chorisch gearbeitet. Früh drei Stunden, nachmittags drei Stunden, und dazwischen mussten Noten geschrieben werden, weil vieles Material verschollen oder verbrannt war. Das hat uns zusammengeführt. Wir hatten eine Aufgabe, und wir waren begeistert von der Aufgabe. Heute wird es auf Grund der Wohlstandsgesellschaft und aller möglichen Ablenkungen nicht mehr so sein. Außerdem steht heute sehr stark – und mit einigem Recht – die Schule im Vordergrund.

Sie waren einmal im Gespräch als Kreuzkantor. Es gab eine Situation in der Chorgeschichte, wo man Sie gern in diesem Amt gesehen hätte. Was hätten Sie anders gemacht als Rudolf Mauersberger?


Schreier: Ich war zu der Zeit schon in einem wesentlich professionelleren Umfeld und weiß gar nicht, ob ich mit dieser Aufgabe zurechtgekommen wäre. Ich hätte wahrscheinlich von den Jungen künstlerisch sehr viel verlangt. Heute jedoch glaube ich, dass an erster Stelle die pädagogische Arbeit mit dem Chor stehen muss. Sie ist für das Klima und auch für die Entwicklung der Jungen sehr wichtig. Ich habe immer den Vergleich mit dem Windsbacher Knabenchor vor Augen. Dort werden die Jungen von ihrem Chorleiter, Karl-Friedrich Beringer, unheimlich gestriezt. Ich habe bei ihm mehrmals die Matthäus-Passion gesungen. Da wurde mir himmelangst um die Jungen, als ich erlebte, wie er die herangenommen hat. Auf der anderen Seite musste ich feststellen, dass man aus einem Knabenchor viel mehr herausholen kann, als wir es in Dresden gewohnt waren. Da bin ich mir nicht sicher, ob ich die Gratwanderung zwischen pädagogischer und künstlerischer Arbeit überhaupt gepackt hätte.
Konkret war die Situation damals so: Martin Flämig war 1971 Kreuzkantor geworden, und es herrschte einige Unzufriedenheit mit ihm. Der unverheiratete Mauersberger hatte sich total für den Chor engagiert. Für ihn gab es nur den Kreuzchor und sein Amt als Kreuzkantor. Flämig dagegen war ein Lebemann. Er wohnte in der Schweiz und tauchte nur an den Wochenenden in Dresden auf. Die ganze Probenarbeit machte sein Assistent Ulrich Schicha. Das war den staatlichen Stellen nicht sehr sympathisch, und so kam es zur Debatte, ob ich das Amt übernehmen könnte.
Ich habe bei Flämig an der Hochschule Chorleitung studiert und sehr viel gelernt. Als er dann aber Kreuzkantor wurde und ich das erste Mal bei ihm sang, da war ich enttäuscht. Ich fand dort nicht das wieder, was ich bei ihm gelernt hatte. Das war für mich ein kleiner Schock. Aus Sorge um den Chor ließ ich mich auf die Gespräche mit Stellen in Dresden und sogar Berlin ein. Aber als ich schließlich sagte, das könne nur vorübergehend sein, denn ich möchte meine Sängerkarriere nicht aufgeben, fand die Debatte zumindest für mich ein Ende.

War Martin Flämig ein typisches Beispiel eines guten Lehrers, der ein schlechter Praktiker ist?


Schreier: Das kann man nicht sagen. Als er die Kirchenmusikschule in Dresden leitete, habe ich tolle Aufführungen unter ihm erlebt. Aber mit den Jungen konnte er nicht umgehen. Er hat auch viele französische romantische Oratorien aufgeführt, die für meine Begriffe Knabenchören nicht liegen oder die zum Teil einen ganz anderen als den Knabenchorklang verlangen.

Sie selbst möchten nicht unterrichten, weil Sie den Gesangsunterricht als eine sehr diffizile Angelegenheit ansehen. Haben Sie schlechte Erfahrungen gemacht?


Schreier: Auch, aber da muss ich weiter ausholen: Ich war kein großer Freund der Stimmbildung im Kreuzchor, weil ich das Beispiel Wiener Sängerknaben vor Augen hatte, wo Stimmbildung an erster Stelle stand. Die Jungen wurden von Profis ausgebildet – und klangen wie Mädchen, ganz weich. Das entsprach nicht meiner Klangvorstellung von einem Knabenchor. Auch hatte ich das Gefühl, dass für Mauersberger die ganze Stimmbildung mehr eine Alibifunktion hatte, damit man ihm nicht nachsagen konnte, er hätte nichts für die Stimme getan. Immerhin aber erkannte ich bei meiner wenngleich skeptischen stimmbildnerischen Tätigkeit – das war in der Zeit nach dem Abitur –, dass jede Stimme ungeheuer individuell ist, weil jeder Körperbau, jeder Kehlkopf und jeder Schädelknochen anders ist. Und alle diese Komponenten, die zum Singen gebraucht werden, müssen auch ganz individuell angesprochen und ausgeformt werden. Was jedoch geschieht heute: Es werden mit jedem Schüler dieselben Übungen gemacht, und jeder wird mit derselben Methode bedient. Das ist für meine Begriffe nicht richtig. Das individuelle Herangehen an eine Stimme ist sicher sehr schwierig, weil ein Gesangslehrer dann sehr gut hören können und ein Gespür dafür haben muss – und es gibt nur sehr wenige, die das haben. Eben daher stammen meine schlechten Erfahrungen. Ich hatte einen sehr engagierten Gesangslehrer an der Hochschule, Professor Herbert Winkler, der sich große Mühe mit mir gegeben hat. Aber ich kam über einen bestimmten Punkt, beispielsweise den Umgang mit dem Vokal i, nicht hinaus. Er bestand immer wieder auf diesen engen Formen des i, was mich jedoch nicht weiter brachte. Ich habe heute noch eine gewisse Scheu vor dem i. Damals führte das dazu, dass ich heimlich zu einem anderen Lehrer ging, nämlich zu Johannes Kemter, einem Charaktertenor an der Semperoper. Bei ihm erreichte ich einen Punkt, von dem aus ich weitergehen konnte. Er gab mir nämlich den Mut, den Vokal aufzumachen. Von dem Moment an hatte ich stimmtechnisch einen leichteren Zugang zur Oper.
Im Verständnis der Hochschule allerdings war mein "Fremdgehen" ein Fauxpas. Es kam raus, und ich wurde vor den Rektor geladen, Karl Laux, der mir sehr wohlgesonnen war. Er sagte: ›Das geht natürlich nicht, aber wissen Sie was, Sie machen dieses Jahr Ihr Staatsexamen und gehen vorzeitig ab. Sie haben ja alle Fächer abgeschlossen.‹ So kam es, dass ich schon nach drei Jahren mein Staatsexamen machte.

Trotz Ihrer Vorbehalte gegen den Gesangsunterricht nahmen Sie 1981 eine Honorarprofessur für Gesang an?


Schreier: Nein. Ich bekam eine Honorarprofessur ohne die geringste Verpflichtung, irgendwo zu unterrichten. Ich wusste lange Zeit nicht einmal, dass sie an der Hochschule für Musik in Dresden besteht. Typisch für die DDR war ja, man bekam alle möglichen Orden, und wenn die allesamt durch waren, dann wurde einem noch eine Professur verliehen. Lediglich als Titel. Ich habe später in Dresden genauso wie in Berlin oder in Weimar Interpretationskurse gegeben, aber das hatte nichts mit der Professur zu tun. Ich könnte gar nicht Gesangsunterricht geben. Dafür fehlt mir allein schon die Geduld. Ein guter Sänger muss nicht gleichzeitig auch ein guter Lehrer sein.

Der Sänger ist ein "Ganzkörper-Instrument". Er ist im Gegensatz zum Instrumentalmusiker selbst Instrument; er hat nicht nur Stimme, sondern er ist Stimme; er singt nicht allein mit der Stimme, sondern dem ganzen Körper. Hat ein Sänger demzufolge ein ganz besonderes Verhältnis zu seinem Körper?


Schreier: Ja, darin unterscheidet sich der Sänger ganz erheblich von allen anderen Musikern. Er muss seinen Körper immer parat haben. Wenn er zu Höchstleistungen kommen will, muss er absolut ausgeruht und körperlich fit sein. Das ist es auch, was einem Sänger im Alter gewisse Schwierigkeiten bereitet: Der Körper macht nicht mehr alles mit. Nicht die Stimmbänder sind das Problem, sondern die physische Kondition.

Sie sind kein Freund der "historisierenden Aufführungspraxis". Andererseits haben Sie mit Alte-Musik-Ensembles wie der Capella Fidicinia oder dem Neuen Bachischen Collegium Musicum zusammengearbeitet ...


Schreier: Weil ich einen Unterschied mache zwischen einem engagierten, artikulierten und einem manierierten, historisierenden Bach-Spiel. Historisieren um des Historisierens willen, das finde ich furchtbar. Da geht es nur darum, unbedingt etwas anders machen zu wollen beziehungsweise eine Mode zu bedienen. Bei einer Matthäus-Passion mit einem niederländischen Ensemble zu den Ansbacher Bachwochen bin ich fast verrückt geworden, weil es da nur um Effekte und Macharten, nicht jedoch um Inhalte ging.
Aber ich will das nicht verteufeln. Die Beschäftigung mit Fragen der Aufführungspraxis hat viel gebracht. Doch ich kann es nicht hören, wenn man in diesem Zusammenhang von "authentischem" Musizieren spricht. Denn Authentizität gibt es in diesem Fall überhaupt nicht. Keiner von uns weiß, wie es bei Bach geklungen hat.

Eine Frage der Aufführungspraxis ist es auch, wenn Sie bei einer Bach-Passion Dirigent und Evangelist zugleich sind. Etwas, was Sie seit über 20 Jahren praktizieren und was zwangsläufig zu einer eigenen, historischen Vorbildern ähnelnden Aufstellung der beteiligten Musiker geführt hat. Ist die Musikwissenschaft bereits auf diese ganz spezielle Aufführungspraxis aufmerksam geworden?


Schreier: Die Musikwissenschaft nicht, aber die Medizin. Ich habe auf der diesjährigen "Berliner gesangswissenschaftlichen Tagung" in der Charité einen Vortrag gehalten mit dem Thema "Dirigieren und Singen – Ansätze zu neuen Interpretationsmöglichkeiten". Ich kann da zwar nichts zur physiologischen Seite sagen, aber zum psychologischen Aspekt: Dass ich nämlich einen ganzen Abend unter Hochspannung stehe, weil ich die Verantwortung für die gesamte Aufführung habe. Dadurch ist auch meine Stimme, fast möchte ich sagen, präsenter und wegweisender. Denn ich benutze den Evangelisten, um die Handlung im großen Bogen zu gestalten. Hier, glaube ich, ist die Verbindung von Dirigieren und Singen angebracht, weil der Evangelist tatsächlich der Spiritus Rector der Passion ist. Er gibt das Tempo vor, die Dynamik, die Deklamation – und beeinflusst damit die gesamte Aufführung, nicht zuletzt durch die Übergänge zu den Chören und Arien. Ich habe mich immer furchtbar echauffiert über einige Dirigenten, die stets, wenn ein großer Chor vorbei war, ihr Taschentuch herausholten, sich erst einmal den Schweiß von der Stirn wischten und dann gemütlich zur nächsten "Nummer" den Taktstock hoben. Da ist die ganze Spannung weg. Dort habe ich in meiner Doppelfunktion angesetzt: Dass man von Bach gewollte dramatische Effekte auskostet und die Abfolge so fließen lässt, dass sowohl die Mitwirkenden als auch die Hörer ihre Aufmerksamkeit gar nicht aussetzen können, sondern immer gezwungen sind, auf dem Sprung zu bleiben. Die Matthäus-Passion ist gar nicht so episch, wie sie oftmals hingestellt wird, sondern sie hat eine ungeheuere Dramatik und ist im Ganzen der Ausdruck der Möglichkeiten, die Bach als Opernkomponist gern gehabt hätte.

Hat jemals vor Ihnen ein Musiker diese Doppelfunktion von Dirigent und Evangelist ausgeübt?


Schreier: Ich weiß es nicht.

Wenn Sie sich Ende dieses Jahres vom Gesangspodium zurückziehen, ist Wehmut mit dabei?

Schreier: Ich wollte es nicht, aber bei meiner letzten Passionsaufführung am Karfreitag in der Münchner Philharmonie feierten mich die Zuhörer so, dass ich mit den Tränen kämpfen musste. Da wurde mir klar, wie sehr diese Matthäus-Passion Teil meines Lebens ist. Es ist ja unglaublich, wie oft ich sie gesungen und mittlerweile auch dirigiert habe. Andererseits bleibt mir immer noch die Option, das als "Nur-Dirigent" weiterzuführen. Aber da ist vorläufig nichts geplant.

Haben Sie sich dennoch bereits entschieden, ob Sie das überhaupt wollen?


Schreier: Nein. Ich kann mir gar nicht vorstellen, jetzt nur noch zu dirigieren, während ein anderer den Evangelisten singt. Da würde ich einen Sänger brauchen, der das nach meinen Vorstellungen macht. Es ist ja seit etlichen Jahren für mich die Crux: Ich kann nicht mehr den Evangelisten singen mit einem anderen Dirigenten. Denn ich bin so auf meine Vorstellungen fixiert, dass ich geradezu herausgebracht werde, wenn jemand das anders macht. Ich habe mich deswegen in den letzten Jahren mit manchem Dirigenten nicht mehr verstanden. Umgedreht wäre es genauso schwer, wenn ich dirigieren würde und ein Sänger nicht so den Evangelisten sänge, wie ich es mir vorstelle.

Gibt es einen Tenor, von dem Sie sagen: Mit dem könnte es gehen?


Schreier: Da gäbe es sicher den einen oder anderen. Martin Petzold zum Beispiel gefällt mir recht gut.
Dessen Evangelistenvorbild aus seiner Thomanerchorzeit vermutlich Sie sind.

Schreier: Ja, das hat er mir selbst einmal gesagt.

In einem Interview, dass Sie vor etwa 30 Jahren gegeben haben, meinten Sie, der Stimme eines Sängers sei eine zeitliche Grenze gesetzt, die ungefähr beim 50. Lebensjahr liege. Jetzt sind es 20 Jahre darüber hinaus. Staunen Sie selbst darüber?

Schreier: Ja. Es ist auch so, dass ich immer noch ein ganz gutes Gefühl habe. Gewisse Dinge werden schon schwierig. Aber im Liedbereich fühle ich mich noch durchaus in der Lage, einen Abend richtig durchzugestalten, ohne sängerische Schwächen zu zeigen. Trotzdem möchte ich aufhören. Denn es darf nicht dazu kommen, dass der Hörer denkt: ›Na, schafft er es noch?‹ Die Leute sollen mich in guter Erinnerung behalten. Und ich kann auch gut ohne Bühne leben.
- Interview: Claudius Böhm


Der Moment, in dem die Legende der Peter Schreier-Lieder vollendet
(2005)
Endlich ist der Moment gekommen. Gerade war ich....
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Artikel / article: Peter Schreier



Peter Schreier Farewell Concert
Juli 2005
Wenn „ein Kind von der Muse“ auf dieser Welt leben sollte, glaube ich, dass dies Peter Schreier sein muss........
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Vorarlberger Nachrichten
23.06.2005
Schreier auf der Alpe
Der Tenor Peter Schreier (70), der sich vergangene Woche bei der Schubertiade verabschiedet hat, besuchte an einem freien Tag zum ersten Mal eine Alpe. Möglich gemacht hat das der mit ihm befreundete Schwarzenberger Altbürgermeister Jakob Franz Greber: "Schon als ich mit ihm nach Schönenbach fuhr, hat ihn der musikalische Klang der Herderglocken fasziniert."
Auf der Hirschbachalp weihte der dortige Senn Sefftone Greber, der mit seiner Familie schon über 50 Jahre diese Alpe bewirtschaftet, den welberühmten Tenor in die Geheimnisse der Käse-Erzeugung ein. Schreier kostete den dort erzeugten Ziegen- und Alpkäse. "Die Atmosphäre auf der Alpe und die Kompetenz des Alppersonals hat einen starken Eindruck bei Peter Schreier hinterlassen, er hat immer wieder gesagt: "Das ist wie ein Wunder hier heroben!", so Greber.
F.J.



Musikfreunde
September/Oktober 2005
Les Adieux
Peter Schreiers letzte Wiener Liederabende


Am liebsten hätte er beim Abschied nur leise “Servus” gesagt. Leise und schlicht, ein offenes Wort nach dem letzten gesungenen Ton: So, Leute, das war’s jetzt….. Das, erzählte Peter Schreier, hätte ihm eigentlich vorgeschwebt. Aber der planungsbeflissene Musikbetrieb läßt Heimlichkeiten nicht zu. Und so ist es nun publik geworden: Peter Schreier beendet seine Sängerlaufbahn mit Ende des Jahres und verabschiedet sich im Musikverein von seinem Wiener Publikum. Am 22. September singt er “Die schöne Müllerin”, am 25. die “Winterreise” – Schubert als (gar nicht so trübsinniger) Schwanengesang.
Das letzte Mal. – Das Herz blutet einem bei dem Gedanken. Und mit Sentiment und Staunen versucht man zu fassen, was (und wie!) Peter Schreier in den vergangenen vierzig Jahren im Musikverein gesungen hat. Vierzig Jahre sind es genau seint seinem Debüt am 13. März 1965 mit Bachs h-Moll-Messe unter Karl Richter. Dann kam, noch im selben Jahr, das Mozart-Requiem unter Josef Krips, und weiter ging es, 1966, mit der “Matthäus-Passion”, Beethovens “Missa Solemnis”, Haydns “Jahreszeiten” und dem ersten Liederabend mit Schuberts “Schöner Müllerin”. Seit dieser Zeit gehört Peter Schreier einfach zum Haus. Er wurde, wie er selbst lachend formuliert, zum “Inventarsänger” des Musikvereins. Als solcher, fügt er amüsiert hinzu, habe er nicht nur “sehr, sehr viel” gesungen, sondern sich auch zu manchem hinreißen lassen, was er “nicht unbedingt hätte singen müssen” - zum Beispiel Mahlers “Achte”. Das, so Peter Schreier wörtlich, “war ein Flop”.
Man muß diese Äußerung schon wörtlich wiedergeben. Denn so wird unumwunden klar, was diesen Künstler ebenfalls auszeichnet, auch jetzt, da er Rückschau hält. Er verklärt nichts, er bleibt, was er immer war: unprätentiös, uneitel, ehrlich anderen und sich selber gegenuber.

Kunst des Abschiedsnehmens

Ein Abschied con molto sentimento. Aber ohne Sentimentalität. Peter Schreier trägt das Seine dazu bei, Rührseligkeit nicht aufkommen zu lassen. Der Hin weis auf einen “Flop” in Anbetracht einer Künstlerbilanz, die historische Maßstäbe setzt, mag ein Mittel der Balancierung sein. Peter Schreier will sich nicht blenden lassen vom Glanz seiner außerordentlichen Karriere. Er behält das Menschliche im Blick. Und diese Perspektive prägt auch seine Gedanken zum Abschied. “Ich nehme das Wort “Abschied” gar nicht so traurig oder tragisch”, sagt er. “Wir sind eben nur eine gewisse Zeit auf der Erde – Sie, ich, wir alle. Irgendwann kommt der Punkt, wo wir nicht mehr da sein werden. Und so verstehe ich das auch, übertragen auf meinen Beruf”. Alles im Leben hat seine Zeit. “Abschiednehmen”, sagt Peter Schreier, “ist immer mit dem Tod verbunden. Aber ein Abschied von Podium ist nicht gleichbedeutend damit – diese Art des Abschiedsnehmens sollte einem nicht so schwerfallen. Ich habe in Wien meine schönsten künstlerischen Jahre verbracht. Ich kann auf ein Leben zurückblicken, das sich künstlerisch erfüllt hat. Und so möchte ich hier nicht ‘sterbend’ weggehen, sondern aufrecht – mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit.” Große Kunst ist immer Lebens-Kunst. Und das Abschiedsnehmen das wohl schwierigste Kunststück, das einem im Leben abverlangt wird. Peter Schreier schickt sich an, auch diese Kunst exemplarisch vorzutragen, vorzuleben.

Schuberts Abschiedsmusik

Vom Abschieden hat Schreier tausendfach gesungen, und er tut es auch jetzt, zum Abschied im Musikverein. Denn selbstverständlich geht es in beiden Schubert-Zyklen um den Abschied. In der “Schönen Müllerin” ist es ein Abschied vom Leben: unumkehrbar und tragisch vollzogen, weil das Leben, das heißt ersehnte, sich jugendlichem Drängen verschließt. In der “Winterreise” greift der Tod nicht wirklich ein, aber er liegt von Beginn als mächtiger Schatten über dem Wanderer, einem vom Leben schon Abgeschiedenen. Zwei Formen von Abschiedsmusik …. In Peter Schreiers Künstlerleben aber habe die beiden Zyklen ganz unterschiedlich Platz gegriffen. “Die schöne Müllerin” hat er in jungen Jahren immers wieder gesungen, und auch heute findet er, daß der leichte Schritt, mit dem die Wanderschaft des jungen Müllers beginnt, auch einen künstlerisch leichteren Zugang ermöglicht. Die “Winterreise” dagegen sang er das erste Mal mit 50 Jahren, ermutigt durch Swjatoslaw Richter, der das Opus summum des Schubertschen Liedwerks unbedingt mit Peter Schreier erarbeiten wollte. Bis dahin hielt ihn die (Ehr-)Furcht vor diesem Zyklus zurück, die bange Frage, ob er ihn “geistig und seelisch richtig erfassen kann.” Die Herausforderung ist geblieben. Sicherheit kann es bei diesem Werk nicht wirklich geben. “Die ‘Winterreise’”, sagt Schreier, “ist in der Grundhaltung so konzipiert, daß man zu kämpfen hat.”

Ade aus der Höh’

Ade, du muntre, du fröhliche Stadt. Den “Abschied” von Schubert auf ein Gedicht von Rellstab hat Peter Schreier bei seinem bis dato letzten Musikvereinsliederabend gesungen – 2002 war das, im Rahmen einer grandiosen Interpretation des “Schwanengesang”. Denkt man daran zurück, könnte man gleich wieder sentimental werden. Denn was Peter Schreier an diesem Abend bot, das war (wieder einmal) Liedgesang in seiner dankbar schönsten Form: herzergreifend, zeitenthoben, alterslos. Muß dieser herrliche Sänger wirklich schon aufhören?! – Er muß nicht, aber er will. “Künstlerisch dahinsiechen” möchte er auf gar keinen Fall, sagt er und denkt dabei an Sängeridole seiner Jugendjahre, die er am Ende ihrer Karriere als ruinenhafte Denkmäler ihrer selbst erlebte. Gerade die Musikstadt Wien sei da sehr gnädig, weiß er, aber auf das Gnadenbrot nostalgischer Musikliebhaber will er keinesfalls angewiesen sein. Der Sänger Peter Schreier verabschiedet sich aus souveräner Höhe von der Musikmetropole, die ihm so viel gegeben hat.
Um ein Haar, erzählt er, hätte er sich ganz in Wien niedergelassen. Nur sein familiäres Umfeld habe ihn daran gehindert, von der Elbe an die Donau zu ziehen. In der Zeit aber, in der er an der Wiener Staatsoper zu den Meistbeschäftigten gehörte, wohnte er in Wien, Adresse: Bösendorferstraße, gleich beim Musikverein. Die Wohnung hatte er von Hans Hotter gemietet, dessen künstlerische Größe er bewunderte – und dessen leibhaftige Größe ihm zu schaffen machte. “Hotter war ja ein Riese und hatte sich entsprechende Möbel machen lassen”, erzählt Schreier von der Wohnwelt in der Bösendorferstraße. “Wenn ich da am Eßtisch saß, baumelten die Beine in der Luft!”

Avec le coeur

Künstlerisch hatte er hier allzeit Boden unter den Füßen. An der Wiener Staatsoper sang er rund 300 Vorstellungen, im Musikverein avancierte er als “der” Tenor zum Ehrenmitglied. Dieses Haus war und ist ein Stück Heimat für ihn. An diesem Ort fanden entscheidende Weichenstellungen seines Leben statt. Hier war es, daß Fritz Wunderlich ihn 1966 bei einer Probe zur “Matthäus-Passion” hörte. Hermann Prey hatte Freund Fritz mitgebracht, nachher traf man sich auf einen Kaffee. “Ich seh’ uns noch heut’ die Treppe des Musikvereins heruntergehen”, erzählt Schreier versonnen. Wunderlich begegnete dem fünf Jahre jüngeren Kollegen freundschaftlich und warmherzig, ganz uneigennützig empfahl er ihn den Salzburger Festspielen, bei denen er – an Wunderlichs Stelle – die Rolle des Belmonte hätte singen sollte. Fritz Wunderlich wollte sich im Festspielsommer 1967 ganz auf den Tamino konzentrieren. Sein tragischer Tod im September 1966 machte Peter Schreier zu seinem Nachfolger auch in dieser Partie. Im Mozart-Fach trat er das Erbe des großen deutschen Tenors an, designiert durch Wunderlich, 1966 im Musikverein.
Der Goldene Saal war auch das Ort einer zukunftsweisenden Wiederbegegnung mit Karl Richter. Als die beiden 1965 bei Schreiers Musikvereinsdebüt zusammenkamen, frischten sie eine Beziehung auf, die zwanzig Jahre zurücklag. 1945 hatten sie sich beim Dresdner Kreuzchor kennengelernt: Schreier war Sängerknabe und Altsolist des berühmten Knabenchors, Karl Richter war Chorpräfekt. In den legendären Bach-Aufführungen Karl Richters blieb Schreier seit 1965 allzeit erste Wahl. Sicher: Über Richters Stilideal läßt sich heute streiten, und auch Peter Schreier hat sich – als vielgefragter Dirigent in Sachen Bach – deutlich davon bewegt. Aber der Zugang, den Richter fand, und der Zugang, den er seinen Hörern erschloß, der bleibt für Schreier mustergültig. “Avec le coeur”, Richters Motto, ist der denkbar beste Wahlspruch fürs Musizieren. Peter Schreier läßt sich davon auch hörerend immer wieder bewegen, etwa, wenn er allsonntäglich einer Bach-Kantate im Radio lauscht. Oft werden da alte Herzenbande berührt. Karl Richter und Peter Schreier: eine Künstlerfreundschaft, die 1965 im Musikverein besiegelt wurde.

Herzensbonus für immer

Ade, du muntre, du fröhliche Stadt. Schreier denkt dabei vor allem an Wien. Diese muntre, fröhliche Stadt hat es ihm angetan. “Eigentlich”, sagt er, “könnte man ein ganzes Buch über Wien schreiben!” In Angriff genommen hat er es (noch) nicht. Doch in seiner Autobiographie “Im Rückspiegel”, die soeben in einem Wiener Verlag erschienen ist, spielt die Wienerstadt eine bedeutetende Rolle. Schreier erweist sich da als echter (Wahl-)Wiener, denn seine Liebeserklärung mischt sich mit einer gehörigen Prise Ironie. Ganz ernst muß man nicht nehmen, was diese Stadt munter und fröhlich an Leidenschaft produziert. “Der Grad der Anerkennung, den die Musik un der Gesang hier hat”, sagt Schreier, “der hat mir immer ungeheur imponiert – auch mit seinen skurrilen Seiten”. Die Skurrilitäten sind freilich eher bei den Opernfans zu finden. Das Musikvereinspublikum sei viel “seriöser”: eine Gemeinde wahrer Kenner und Liebhaber: Sicher, räumt Schreier ein, sei bei einem solchen Publikum auch manchmal etwas von einem saturiert-souveränen “Nun mach mal! Wir haben schon die ganz Welt gehört!” zu spüren. “Es ist schwer, hier die Herzen zu erobern. Aber”, sagt Schreier mit Dank an die muntere, fröhliche Stadt, “wenn man sie hat, die Herzen, dann hat man sie - ich möchte nicht sagen für immer….., aber dann hat man für immer einen Bonus.

Mehr Mut"
Wenn Peter Schreier in September seinen letzten Wiener Liederabende gibt, dann weiß er, daß im Brahms-Saal Musikfreunde sitzen werden, die ihn vielleicht schon bei seinem Debüt gehört und ihm über Jahrzehnte die Treue gehalten habe. “Und sie”, meint er, “werden dann wohl auch die Unterschiede zu früher wahrnehmen.” Wie stark empfindet er selbst diese Unterschiede? “Oh, ganz gewaltig!”, antwortet Schreier. “Ich habe über die Jahre hin vieles korrigiert, vieles anders gesungen. Entschiedend war wohl, daß ich mehr Mut zur Gestaltung gefunden habe – auch manchmal ganz bewußt auf Kosten des rein Stimmlichen. Schön singen ist die eine Seite, aber sie darf nicht zum Prinzip werden! Der Ausdruck muß im Vordergrund stehen, die Bereitschaft, auch einmal einen ‘charakteristischen’ Ton anzuschlagen. Und in dieser Richtung habe ich im Lauf der Jahre viel Mut bekommen.

Fassung letzter Hand?"
Hat sich Peter Schreier für die letzte “Müllerin”, die letzte “Winterreise” in Wien etwas Besonderes vorgenommen? Eine Art Fassung letzter Hand? Nein, mit derlei Überlegungen will er sich nicht befrachten. Er wird, wie stets, offen sein fürs Inspirationen des Augenblicks, für die Atmosphäre des Saals, für Schwingungen, die vom Publikum ausgehen, für dialogische Einwürfe des Pianisten. Mit Camillo Radicke, erzählt er, habe er da wieder einen jungen Menschen gefunden, der das “ganz toll” macht. “Der Junge ist sowas von dabei – so konzentriert, das ist reine Vergnügen!”
Das letzte Mal. Der Druck, der vom Wissen darum ausgehen kann, sei nicht so groß, sagt Schreier. “Dafür sind Werke wie die ‘Müllerin’ oder die ‘Winterreise’ viel zu schwer, viel zu fordernd.” Dann aber, am Ende eines solchen Konzerts, ließen sich die Emotionen des Abschieds doch nicht vermeiden. In München hat er das zuletzt mit der “Matthäus-Passion” erlebt, in Dresden mit der “Winterreise”. “Wenn dann das Publikum so aufsteht, dann“, sagt Peter Schreier, “muss man schon bissl kämpfen.”

Wien, die muntere, fröhliche Stadt, wird an diesen Abenden mit Tränen nicht sparen. Denn dieser Abschied, so leicht er sich auch geben mag, ist schwer. Wir werden alle ein bissl zu kämpfen haben.
Joachim Reiber.


Darmstädter Echo
20.08.2005
Star-Tenor Schreier: Auch beim Plaudern bei bester Stimme
Peter Schreier (70), Tenor aus Dresden mit Weltruhm. Zur Zeit Darmstadt. Er kam, sang – und signierte. Wie er am Donnerstag im Kollegiengebäude sang: heute Rezension im Feuilleton dieser Zeitung. Wie er morgen, Sonntag, in der Stadtkirche singen wird – da spitzt seine große Gemeinde die Ohren in Vorfreude. Wie er am Freitag signierte: „wer wann was“ war dabei. Bei Buch Habel lag Schreiers Biographie „Im Rückblick“ stapelweise. Für den Mann keine Strafarbeit im Akkord-Tempo des Autogramm-Profis. Sondern die Gelegenheit, gänzlich uneitel und warmherzig mit allen zu plaudern, die an ihn herantraten. Aus alle vereinender Liebe zur klassischen Musik. Manche verließen die Stätte mit jenem Glanz in den Augen, den sie sonst nur bei Konzerten bekommen.

Peter Schreier, Darmstadt
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Nach dem Signier-Akt zeigte sich Peter Schreier auch bei einem Plausch bei bester Stimme, in bester Stimmung. Seine Hand zuweilen wie beim Dirigieren erhebend – der Harmonie willen. Die zieht sich auch durch sein Buch, in dem – außer einer Mini-Anekdote – die DDR mit keinem Satz erwähnt wird. Hätte der Untertitel „Erinnerungen und Ansichten“ das nicht gefordert?
Schreier bekennt freimütig vielfältiges Unbehagen mit dem, was war. Verweist gleichzeitig auf seine einmalige Chance unter oft widrigen Bedingungen: „Mein Leben lief nach dem Mauerbau weiter wie bisher. Ich war ja in der glücklichen Lage, nach wie vor zu meinen Konzert-Verpflichtungen in der ganzen Welt reisen zu dürfen.“ Ein Kultur-Export, der vom Regime zugleich als Devisenbringer geschätzt wurde? Peter Schreier lacht laut und fast grimmig vergnügt: „Das Geld von mir hätte die DDR auch nicht rausgerissen. Also wirklich nicht.“
Diebisch freut er sich aber heute noch über eine Anekdote zu seinem ersten großen Auftritt 1968 in New Yorks Metropolitan Opera: „Ich durfte ja nur ausreisen, wenn hinter meinem Namen auf den Plakaten im jeweiligen Auftrittsland in Klammern DDR stand. Der Met-Direktor schrieb kurzerhand einen Brief nach Ost-Berlin: Alle Künstler, die an der Met auftreten dürfen, seien so weltberühmt – da sei bei niemandem der Verweis aufs Herkunftsland nötig.“ Die Oberen waren dann, zumindest nach außen hin, so stolz auf Peter Schreier, dass sie diese List schluckten.Wie erlebte er den 9. November 1989? Schreier: „Bei der Arbeit. Wir nahmen in West-Berlin Mozarts ,La Finta Giardiniera‘ auf Platte. Zum Ende, gegen 23 Uhr, kam der Aufnahmeleiter: ,So – das hätten wir fertig. Und übrigens: Die Mauer ist auch gerade gefallen.‘ Alles schrie ,Hurra!‘ und rannte zum nächsten Italiener, um zu feiern.“Apropos feiern: Am 29. Juli wurde der Maestro 70 Jahre alt. Was hat er aus diesem Anlass seiner Frau zum Geburtstag geschenkt? Renate Schreier (70) wurde nämlich am selben Tag und im selben Jahr ihres späteren Mannes geboren. Antwort: „Wir hatten beschlossen, uns nichts zu schenken. Also schenkte ich mir einen kleinen Rasenmäher-Traktor. Und denselben Betrag in Geld meiner Frau.“ Da kann sie was Schönes kaufen gehen, wenn er im Garten Lärm macht. (.......)



Berliner Zeitung (BZ) 30.07.2005
Ich schließe meine Augen und kann doch alles sehen
Peter Schreier über das Flüstern des Lindenbaums, eine herrliche Rosinensuppe und seinen Abschied vom Sängerleben

Herr Schreier, lieben Sie Tschechow?
O ja!
Und was besonders?

Den gesamten Tschechow. Seine unglaublich klare Sprache und diese durchtriebene Ausdrucksweise. Wie kommen Sie auf Tschechow?
Es gibt eine Erzählung von ihm, die heißt "Der Student". Darin geht es um einen jungen Mann, der am Karfreitag zwei arme Witwen im Garten trifft, die sich am Feuer wärmen. Er erzählt ihnen die Geschichte von Petrus, der in der kalten Karfreitagsnacht Jesus dreimal verleugnet. Der Hahn kräht, Petrus weint, und in dem Moment fängt auch die ältere Witwe an zu weinen. Da merkt der Student: Plötzlich hat die Passionsgeschichte "einen Bezug zur Gegenwart - zu den beiden Frauen, und sicherlich zu ihm selbst, zu allen Menschen". Das ist doch auch eine Geschichte über Sie.

Ja. Meine Beziehung dazu ist sehr stark.
Sie haben fast ein halbes Jahrhundert lang den Evangelienbericht in Bachs Passionen gesungen.

Das erste Mal 1957, aber meine Bekanntschaft damit reicht ja über sechzig Jahre zurück - durch die Aufführungen des Dresdner Kreuzchors. Zum ersten Mal mitgesungen habe ich die Matthäus-Passion 1943 oben auf der Brüstung der heute wieder in Stand gesetzten Frauenkirche als Cantus-Firmus-Sänger im Eingangschor....
.... wenn die Knaben noch über den beiden großen Chören den Choral singen: "O Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet."
Ja genau. Vieles habe ich damals eher im Unterbewussten wahrgenommen. Die wache Auseinandersetzung mit der Partie des Evangelisten begann tatsächlich erst 1957. Und seither habe ich doch eine ziemliche Entwicklung durchgemacht. Sie müssen bedenken: Ich kam aus der alten Kantorentradition, wie sie in Rudolf Mauersberger, dem Dresdner Kreuzkantor, verkörpert war. Dann sang ich den Evangelisten unter Karl Richter, der auch noch in dieser Tradition stand. Bis ich mit Dirigenten zusammenarbeitete, die ganz andere Ansätze verfolgten: Helmuth Rilling, Nikolaus Harnoncourt, Ton Koopman. Durch diese Konfrontation verschiedener stilistischer Haltungen habe ich im Lauf der Jahrzehnte ein eigenes Bild vom Evangelisten entwickelt.
Können Sie das in Worte fassen?

Ziemlich genau sogar. Es bestand früher die Auffassung, dass der Evangelist ein sachlicher, fast unbeteiligter Erzähler der Geschichte sein sollte. Diese Ansicht hat mich aufgeregt. Ich habe mir immer gesagt: Das kann nicht sein! Und zwar deshalb nicht, weil Bach musikalisch so viel Spannung schafft, die dazu herausfordert, einen teilnehmenden Evangelisten zu singen, einen aktiven. Nehmen Sie, um bei Tschechow zu bleiben, die Stelle, wo es heißt: "Und alsbald krähete der Hahn". Das ist ein großer Intervallsprung, wo Bach ausholt und vom Berichterstatter ein unglaubliches Engagement fordert, körperlich, gesanglich. Da kann man kein unbeteiligter Sänger bleiben.

Darum geht es bei Tschechow. Das Evangelium wird jedes Mal neu Gegenwart.
Genau so! Und ich gehe sogar noch weiter: Jedes mal anders! Aus der Gefühlslage und der geistigen Verfassung des Berichterstatters und seiner Hörer heraus.
Der Evangelist ist jemand, der auch ein Bekenntnis ablegt. Nun ist das in der DDR nicht immer einfach gewesen. Wer in der Schule das Bekenntnisabzeichen trug und seine Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde nicht versteckte, bekam meistens Ärger.

Das stimmt. Wir hatten da aber mit unserer Kreuzschule eine gewisse Sonderstellung. Nur während meiner Studienzeit gab es eine Aktion des Kulturministeriums gegen die Dresdner Hochschule für Musik, die der Parteiführung politisch nicht aktiv genug war. Da wurde ich auch gefragt: "Warum tragen Sie kein FDJ-Abzeichen?" Ich gab zur Antwort: "Ich bin auch in der Jungen Gemeinde und trage kein Abzeichen. Das muss man doch eigentlich jedem selbst überlassen". Daraufhin gab es keinen Kommentar mehr. Dass man sich mit Bach politisch unbehelligt beschäftigen konnte, verdanken wir sicherlich der besonderen Stellung des Kreuzchors in Dresden und des Thomanerchors in Leipzig, an der nicht gerüttelt wurde.
Schon die sowjetische Militärverwaltung drängte 1945 darauf, dass der Kreuzchor seine Arbeit wieder aufnahm.

Ja, ja, das war ein sehr musikinteressierter Stadtkommandant, der dafür sorgte, dass wir nicht nur einen Raum bekamen und Musik machen konnten, sondern dass wir auch was zu essen kriegten. Und das Verrückte war, dass die Amerikaner das Gleiche für uns taten. Es gab eine Aktion mit Care-Paketen, die wurden dem Kreuzchor in wahrhaft ausreichendem Maße zugestellt. Und ich kann mich noch entsinnen: Im Alumnat gab es früh eine herrliche Rosinensuppe zu einer Zeit, wo sonst weit und breit nichts zu essen aufzutreiben war.

Rudolf Mauersberger ist für Sie zu einer prägenden Figur geworden.
Auf jeden Fall. Das liegt natürlich daran, dass ich als Zehnjähriger zur Zeit eines totalen Neuanfangs in den Kreuzchor kam. Die Kreuzschule war in den Flammen des 13. Februar untergegangen, der Kreuzchor hatte sich verloren, elf Jungs waren bei dem Bombenangriff ums Leben gekommen. Das gesamte Notenmaterial war vernichtet. Die wenigen Dinge, die man gerettet hatte, reichten nicht aus, um den Konzertbetrieb wieder aufzunehmen. Damals hat Mauersberger sich hingesetzt und Gebrauchsmusik komponiert, viele Stücke, die er auf ganz bestimmte Leute im Chor zugeschnitten hat, zum Beispiel auf meine Altstimme. Er kannte meinen Stimmumfang, er wusste, wie ich bestimmte Vokale behandle. So hat er mir auch entscheidend geholfen, Sänger zu werden.

Wann stand für Sie der Entschluss fest, Sänger zu werden?
Schon während des Stimmwechsels. Da habe ich immer zu mir gesagt: Du musst Sänger werden! Du musst auch noch Tenor werden! Alles andere hätte gar keinen Sinn.

Warum denn das?
Zu der Zeit haben mich die Evangelisten in den Aufführungen der Bach-Passionen so begeistert, dass ich immer den Willen hatte: Das möchte ich mal singen! Ich wusste nur noch nicht, wie schwer das ist, bin ja auch beim ersten Mal ganz schön eingebrochen. Aber es stand für mich fest: Über diese Schiene muss deine Gesangslaufbahn führen. Diese Evangelisten-Partien in den Passionen - das war einfach eine ganz besondere Vermenschlichung des Evangeliums.

Mit der Oper haben Sie damals weniger Erfahrungen gemacht.
Wenn man in so einem Umfeld wie dem Dresdner Kreuzchor aufwächst, wird man vor allem in Richtung Bach und zur Geistlichen Musik geführt. Die Oper kam sehr viel später. Vielleicht hätte ich sogar auf eine Opernlaufbahn völlig verzichtet, wenn man an der Hochschule nur Konzertgesang hätte studieren können. So etwas gab es aber nicht. Ein Sänger war automatisch ein Opernsänger. Und es ist ja auch heute noch so: Wenn man sich nicht in der Oper einen Namen gemacht hat, ist man kein richtiger Sänger.

Sie schätzen neben der geistlichen Musik auch die intime Gattung des Lieds sehr hoch. Wahrscheinlich lieben Sie dann auch Lyrik mehr als den Roman, die Grafik mehr als die Malerei?
Nein. Bei der Grafik zumindest muss ich einhalten. Die liegt mir etwas fern. Mir steht die Malerei näher. Ich fühle mich stark zu Caspar David Friedrich hingezogen, und von den Neueren liegen mir solche Künstler wie Wolfgang Mattheuer, den ich verstehen kann. Es läuft wohl bei mir darauf hinaus, dass ich mit der modernen Kunst, mit den Avantgardisten nicht viel anfangen kann, weil ich ein Bild brauche von etwas, das ich mir vorstellen kann. Ich brauche Natur, auch Klarheit. Gestern zum Beispiel habe ich mir ein Bild von Kandinsky angesehen, mit geometrischen Figuren. Das sagt mir nichts. Das ist für mich kalt.

Ihre Kindheit in Gauernitz, bei Meißen, war ja sehr naturverbunden.

Das wird's wahrscheinlich sein. Wenn man auf dem Dorf groß wird, lebt man mit den Jahreszeiten und ist ganz auf diesen Rhythmus der Natur eingerichtet. Damals gab es ja auch noch kein Fernsehen, und so entwickelte man zur Welt kaum eine andere Beziehung als durch die Vorgänge, die in der Natur um einen herum passierten.

Die Welt, in der Sie aufgewachsen sind, war eine von Pferdefuhrwerken, Butterfässern und der Wassermühle am Saubach. Singen Sie da "Die schöne Müllerin" nicht anders als jemand, für den das alles schon eine Welt von gestern ist?
Also so weit würde ich nicht gehen. Das ist ein bisschen simpel zu sagen, dass man eine "Schöne Müllerin" besser nachvollziehen kann, wenn man Pferdefuhrwerke und Mühlräder noch aus eigener Anschauung kennt. Die Darstellung bei Schubert ist doch künstlerisch stark erhöht und meine Annäherung an diesen Zyklus weniger direkt durch meine Kindheitserlebnisse bestimmt als durch das, was ich meiner Beschäftigung mit dem gehobenen deutschen Volkslied verdanke. Wenn ich einer "Müllerin" ein bestimmtes Kolorit geben kann, dann bin ich nicht von einer konkreten Mühle beeinflusst. Dann beschäftigt mich viel mehr dieses Lied-Ideal einer kunstvollen Einfachheit. Das ist doch das Tolle an Schubert, dass man oft bei einem einfachen Lied gar nicht merkt, wie tief man hier in großer Kunst steckt. "Die Schöne Müllerin" folgt einer volksliedhaften Erzählweise, die man sängerisch durch Farbe und Tempo interessant gestalten muss.

Ihr Singen kommt ganz stark von der Sprache her.
Das kann man wirklich so sagen. Ich bin auch der Meinung: Eine schöne Stimme ist Voraussetzung des Singens, darf aber nicht im Vordergrund stehen. Es geht darum, mit dem Text etwas begreifbar zu machen.

Wann ist Ihnen eigentlich, außerhalb Ihres Berufs, das letzte Mal ein Mensch begegnet, der gesungen hat?
Hu! Haha! Schwer zu sagen. Also wenn wir alten Kruzianer zusammenkommen, singen wir immer. Wir haben die so genannten grünen Bücher, da stehen Volkslieder drin, auch andere Sätze, die bringt immer jemand mit. Nun sind wir alle im Kreuzchor gewesen, aber wenn Sie mich fragen, wann ich das letzte Mal einen Nicht-Sänger habe singen hören, dann bin ich überfordert. Darauf kann ich Ihnen nicht antworten.

Warum singen Menschen?
Um etwas auszudrücken. Sicher auch, um sich zu befreien. In psychiatrischen Abteilungen zum Beispiel wird Singen benutzt, um Kontakt zu anderen Menschen zu bekommen, um Hemmungen loszuwerden, vielleicht auch um Lebensfreude zu beweisen.

Dabei haben doch Kinder ab einem bestimmten Lebensalter gerade Hemmungen zu singen.

Ja, ab einem bestimmten Lebensalter. Davor haben sie keine Hemmungen. So bis zu ihrem achten Lebensjahr singen Kinder. Dann gehen die Hemmungen los.

Hatten Sie als Kind Hemmungen zu singen?
Nein, nie. Wenn mein Vater, der Kantor und Lehrer war, mit mir übers Land zog, nahm er mich mit, und ich habe überall gesungen. Wir waren ja oft auf bei den Bauern eingeladen. Und mein Vater war sehr beliebt, ein lustiger Mann überdies. Er hat sich dann ans Klavier gesetzt, und ich habe frisch von der Leber weg gesungen.

Nun haben Sie in diesem Jahr den Entschluss gefasst, mit dem öffentlichen Singen aufzuhören. Warum jetzt?

Warum jetzt? Ich werde siebzig Jahre alt. Darf ich da nicht aufhören?

Was Sie dürfen oder nicht dürfen, steht hier nicht zur Debatte. Ihr Kollege Siegfried Lorenz ist zehn Jahre jünger als Sie und hat gerade seinen letzten Liederabend gegeben.

Ach! Und wissen Sie warum?
Sehen Sie, jetzt wollen Sie auch die Gründe wissen. Er hat gesagt, nun sei der Zeitpunkt, wo es noch fast am schönsten sei, da solle man aufhören.
Das ist ein sehr gutes Argument, natürlich, auch für mich ein wesentlicher Punkt. Ich sage mir: Die Leute sollen mich in guter Erinnerung behalten. Und es ist nichts schlimmer, als wenn sich ein Sänger auf der Bühne quält, und das Publikum fragt sich: Oh Gott, warum muss er sich das antun? Und außerdem: Es ist jetzt auch mal genug. Wenn ich meine Kreuzchorzeit mitrechne, singe ich über sechzig Jahre. Das ist eine sehr, sehr lange Zeit. Man hat dann wohl auch mal ein Recht darauf, von diesem Stress erlöst zu werden. Ich werde immer älter und trotzdem stets an meinen früheren Leistungen gemessen. Man hat natürlich den Ehrgeiz, dieses frühere Niveau zu halten, aber das wird körperlich schwerer, einfach weil man nicht mehr diese Spannkraft aufbringt. Dann muss man den Mut haben zu sagen: Bisher ist es mir gut gegangen, nun ist es Zeit abzutreten.

Fällt Ihnen der Abschied als Sänger schwer?
IIm Moment nicht, aber wenn das letzte Konzert herankommt, das Weihnachtsoratorium am 4. Advent in Prag, dann könnte es eventuell etwas wehmütiger werden. Obwohl: Mein Abschied von der Oper ....... als Tamino in Mozarts "Zauberflöte" .......
in Berlin vor fünf Jahren, hat mich auch nicht unbedingt wehmütig gemacht. Natürlich, man hat mich an der Staatsoper so wunderschön verabschiedet, dass ich an dem Abend schon mit mir gekämpft habe. Aber das war dann schnell vorbei. Die Oper ist ja auch eine Kunstform, die mir nicht unbedingt auf den Leib geschrieben war. Ich habe gerne Oper gesungen, aber für mich ist der Konzertsaal immer noch eine Stufe höher in der musikalischen Rangfolge.

Was müssen Sie im Konzertsaal leisten, was Ihnen in der Oper nicht abverlangt wurde?

Auf dem Konzertpodium bin ich gezwungen, die künstlerische Vorstellung dieses Abends zusammen mit einem Pianisten allein zu gestalten. Es gibt keine Ablenkung durch szenische Darstellungen, durch eine üppige Orchesterbegleitung. Beim Liederabend steht man nackt auf der Bühne. Da ist man ganz allein für sich verantwortlich und auch gezwungen, etwas über die Rampe zu bringen, was einen ganz persönlichen Ausdruck trägt. Diese Persönlichkeit geht auf der Opernbühne ein wenig verloren durch die Führung des Regisseurs oder die des Dirigenten. Da ist man von zwei Seiten gewissermaßen abhängig, steckt in einem Korsett. Im Konzertsaal ist man dagegen frei, hat jedoch gleichzeitig eine größere Verantwortung.

Da schlägt wieder der sächsische Protestantismus durch: Freiheit, Selbstverantwortung, Misstrauen gegenüber der "Begehrlichkeit des Auges".

Natürlich! Die Prägung geht in der Tat sehr tief. Aber ich bin sowieso nicht so sehr ein Mann des Auges. Ich kann mir eine Oper anhören, dabei die Augen schließen und doch alles sehen. Es muss nur der musikalische Ausdruck stimmen. Wenn da etwas vom Dirigenten und den Sängern geleistet wird, dann ist für mich Oper interessant. In dem Moment, wo ich nur über das Auge gezwungen werde, etwas aufzunehmen, wird Oper für mich langweilig.

Sie singen jetzt über sechzig Jahre. Für die, die in der DDR zwischen 1960 und 1975 geboren wurden, waren Sie eigentlich immer da. Selbst wer sich nicht für Musik interessiert hat, kennt Sie. Wenn man in die Schule kam und vielleicht zum ersten Mal ein Kunstlied hörte, dann war es Schuberts "Heidenröslein", gesungen von Peter Schreier. In der zehnten Klasse stand dann Bachs Matthäus-Passion auf dem Lehrplan - den Evangelisten sang Peter Schreier. Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie sehr sie als Interpret in die Gesellschaft gewirkt haben?
Das Echo, das ich über all die Jahre bekommen habe, war so stark, dass ich schon glaube: Ich bin für viele vielleicht ein Vorbild, für die meisten zumindest ein Begriff gewesen. Ich hatte auch Kontakte zu Musiklehrern, die mich gelegentlich baten, etwas zu sagen oder zu schreiben. Aber in dem Maße, wie Sie mit das jetzt erzählen, ist mir das noch nie bewusst geworden.

Ich übertreibe mal und sage: Es können sich wahrscheinlich mehr Menschen - gereizt oder erfreut - an Ihre Stimme erinnern als an die Gesangsstimme ihrer eigenen Mutter.
Das ist natürlich auch ein bisschen die damalige Lage gewesen. Ich hatte eben durch meine vielen Schallplattenaufnahmen einen enormen Einfluss auf die Musiklehrer und den Musikunterricht. Sicherlich auch, weil es in der DDR nicht so viele Möglichkeiten gab, sich Schallplatten von anderen Sängern zu besorgen. Andererseits wurden meine Schallplatten ja auch im Westen verkauft - da hatte man dann den Eindruck, dass das vielleicht doch ganz international ist, was man da hörte.

Ist das Jahr 1989 für Sie eine Zäsur gewesen?

Künstlerisch und musikalisch nicht. Ich kann Ihnen das genau erzählen: Am Öffnungstag der Berliner Mauer habe ich gerade Mozarts Oper "La finta giardiniera" mit dem Kammerorchester "Carl Philipp Emanuel Bach" in Ostberlin aufgenommen. Am Abend hörten wir: Die Grenze ist auf! Wir haben die Aufnahme sofort abgebrochen. Das Orchester ist in den Westen gestürmt zum Italiener, um italienisch essen zu gehen. Ich bin nach Hause gefahren in meine Berliner Wohnung, habe den Fernseher angemacht und dann so traurige Sachen gesehen! Da sah man den Herrn Stoph. Ist Ihnen der noch ein Begriff?
Der Vorsitzende des Ministerrats der DDR.
Ja. Der wurde da interviewt und war völlig hilflos. Auch andere Parteigrößen waren nicht in der Lage, einem Reporter auf seine Fragen auch nur im Entferntesten eine vernünftige, sachliche Antwort zu geben. Das war so armselig. Ich habe das zuvor nicht für möglich gehalten. Günter Mittag, der Wirtschaftsexperte, stotterte vor der Kamera. Das war erschütternd. Aber was für mich danach kam, war künstlerisch kein neues Leben. Meine musikalische Reichweite erstreckte sich ja über ganz Europa, nach Japan und nach Amerika. Ich musste nicht mehr um Engagements kämpfen, insofern ging für mich das Leben wie gewohnt weiter. Ich war damals sogar so weit, Georg Quander, dem Intendanten der Berliner Staatsoper, zu sagen: Ich möchte gern aus dem Ensemble ausscheiden, um mich mehr dem Konzert widmen zu können und nur noch das auf der Bühne zu machen, was ich gerne möchte. Da hat der Quander damals gesagt: "Das dürfen Sie mir nicht antun. Wenn Sie jetzt von der Staatsoper weggehen, sagen alle: Die Ossis werden gekündigt". Da habe ich gesagt: "Na gut, wenn Sie mir die Freiheit geben, dass ich nur das singen muss, was ich gerne möchte, dann bleibe ich noch".

Was hat sich denn mit dem Jahr 1989 für Sie überhaupt geändert?

Es gab einige Dinge in der DDR-Zeit, die mich sehr bewegt haben. Die jahrelange Abgrenzung des Landes hat auch dazu geführt, dass ich, der ich ja relativ frei reisen durfte, mich gar nicht getraut habe, meinen Freunden hier einmal zu erzählen, wie schön New York ist, oder wie schön Rom ist. Da musste man immer sehr vorsichtig sein, um niemanden zu verletzen. Mit dem 9. November '89 war diese Beklemmung vorbei. Da konnten endlich alle meine Freunde reisen wohin sie wollten. Das hat mich wirklich glücklicher gemacht.

Ihre Lebenserinnerungen sind gerade als Buch neu herausgekommen. Beim Lesen dachte ich: Eigentlich ist Herbert von Karajan für Sie ein Mentor gewesen und zwar nicht nur für Sie als Sänger, sondern auch als Dirigent.
Durchaus. Sowohl angenehm als auch unangenehm. Ein Mal während der Osterfestspiele in Salzburg: In die Probenzeit fiel ein Konzert, das die Berliner Staatskapelle in Paris gab und wo man mich gebeten hatte, dieses Konzert zu dirigieren. Auf dem Programm stand unter anderem die zweite Symphonie von Brahms. Ich musste nun Karajan in Salzburg bitten, mich kurzzeitig von den Proben freizustellen: "Maestro, an dem einen Wochenende bin ich mit der Staatskapelle in Paris. Da dirigiere ich". - "Was? Hm! Was dirigieren Sie denn?" - "Brahms' Zweite". - "Na, kommen Sie mal mit!" Da nahm er mich nach der Probe mit in sein Zimmer im Großen Festspielhaus, setzte sich ans Klavier, spielte die ganze Symphonie auswendig und ließ mich dazu dirigieren. Das war wirklich beeindruckend. Und er hat mir dann Hinweise gegeben: nicht zu viel Akzente setzen, nicht verkrampfen bei den schwierigen Stellen.

Und das andere Mal?
Das war das ganze Gegenteil. Wir machten Beethovens "Missa solemnis". Ich stand in der Generalprobe dicht vor ihm, hatte mir statt des Klavierauszugs eine Taschenpartitur zum Singen genommen und natürlich die Orchesterstimmen genau mitgelesen. Plötzlich, ich weiß nicht mehr an welcher Stelle, tritt Karajan vor, kommt an dicht mich heran und - haut mir die Partitur aus der Hand! Da war ich platt!Haben Sie da noch singen können?
Ja, schon. Aber ich wusste gar nicht, was los war. Er hat das so völlig ohne Grund gemacht. Er sagte nur: "Holen Sie sich gefälligst einen Klavierauszug!" Ich durfte ihm nicht auf die Finger schauen - so habe ich das empfunden. Er war plötzlich sehr gereizt, dass ich in der Partitur mitlas.

Welches Repertoire pflegen Sie als Dirigent nun selbst?
Eigentlich all die Werke, in denen ich auch selbst gesungen habe: Bachs Passionen, Weihnachtsoratorium, Mozarts geistliche Musik, Haydns Oratorien.

Wie weit geht Ihre Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis?
Wofür ich mich ehrlich interessiere: Das ist die barocke Rhetorik, das, was Harnoncourt "Klangrede" nennt. Von alten Instrumenten habe ich nicht viel Ahnung, weil ich leider kein Instrument, außer dem Klavier, gelernt habe. So kann ich die Besonderheiten dieser Instrumente vom Technischen her nicht so richtig begreifen. Vom Klanglichen her bin ich in den meisten Fällen eher enttäuscht, weil ich diesen Klang als unnatürlich empfinde: dieses Näselnde, Enge bei den Holzblasinstrumenten, bei den Blechblasinstrumenten auch. Ich stehe eben doch dem romantischen Orchester näher, mit dem ich aufgewachsen bin. Das ist mein Klang. Das neue Wissen um die Rhetorik allerdings und die prägnante Artikulation im barocken Musizieren, das halte ich für sehr, sehr wichtig. Da ist man ein ganzes Stück weitergekommen. Die Motorik bei Bach, die man oft als sehr gleichförmig und ein wenig langweilig empfinden konnte, die ist durch die historische Aufführungspraxis viel interessanter geworden.

Sie haben als Dirigent schon ab den späten Siebzigerjahren begonnen, dieses rhetorische Wissen beim Musizieren anzuwenden.
Ja, ich habe das versucht und bin damals bei den Musikern auch auf viel Verständnis gestoßen. Man hätte das allerdings viel konsequenter machen müssen. Dennoch haben wir eine ganze Menge damit erreicht, vor allem gegenüber den Traditionalisten, die diesen alten Kantorenstil weiter gepflegt haben.

Woran arbeiten Sie als Dirigent gerade?

Ich arbeite nur noch an meinem Repertoire. Als nächstes dirigiere ich die Johannes-Passion, aber momentan habe ich erstmal Urlaub. Dann singe ich noch ein paar Abende im September: im Musikverein in Wien, in Budapest mit Andras Schiff, auch in Moskau noch einmal.

Mit dem Pianisten Andras Schiff haben sie vor elf Jahren Schuberts "Winterreise" aufgenommen. Das erste Mal gesungen haben Sie diesen Zyklus vor zwanzig Jahren mit Swjatoslaw Richter am Klavier. Da waren Sie knapp fünfzig. Warum erst so spät?
Zur "Winterreise" muss man eine menschliche Reife haben, die man in jungen Jahren nicht hat oder die nur wenige haben.
Pardon, aber Schubert war dreißig, als er diese Lieder schrieb.

Sicher. Aber ich habe mich früher damit schwer getan, weil ich die Stimmung, den Grundgehalt dieses Zyklus' nicht nachvollziehen konnte. Man muss persönlich wenigstens einmal eine sehr düstere Erfahrung gemacht haben, um wirklich zu empfinden, was dieser Mann da durchlebt. Natürlich: Man kann das trotzdem singen, die Lieder "dunkel" oder "hell" färben, einen "gewissen Ausdruck" reinbringen. Aber das bleibt in den meisten Fällen sehr oberflächlich. Man kann nie reinschauen in den Sänger - aber ich glaube, um "Die Winterreise" wirklich singen zu können, muss man die tiefe Todessehnsucht und diese Depression einmal selbst gespürt haben.

Das ist Ihnen mit fünfzig leichter gefallen als mit dreißig?
Tja, eine Frohnatur wie ich brauchte da etwas länger.
So ganz überzeugt mich das nicht. Die Partie des Evangelisten ist ja auch kein Stück für Frohnaturen.

Ja, aber das ist eine andere Welt. Die "Winterreise" liegt uns noch sehr nahe. Die Evangelisten-Welt ist eher überpersönlich, kommt aus dem klassischen Drama, eine Welt, die für jeden gleichermaßen verständlich ist, wo man nicht eine einzigartige Erfahrung gemacht haben muss, die den Menschen nachhaltig prägt. Der Evangelist ist, sagen wir es ruhig: ein Stück Theater. Bei Schuberts "Winterreise" geht das nicht mehr.

Kann es sein, dass in Ihrer Biografie die Auseinandersetzung mit der Figur des Palestrina in Hans Pfitzners gleichnamiger Oper die "Winterreise" geistig vorbereitet hat? Palestrina jedenfalls sagt von sich: "Ich bin ein alter, todesmüder Mann am Ende einer großen Zeit". Er spricht offen davon, den Selbstmord längst erwogen zu haben.

Ja, ganz genau so ist es. Man muss sich wirklich einmal in solch eine Situation versetzen, man muss sie wirklich einmal erleben. Das ist ganz merkwürdig beim Palestrina: Man kommt zwangsläufig in diese Situation der Düsternis. Ich war beim Singen jedes Mal in einer anderen Welt. Da haben Sie durchaus Recht, dass die Beschäftigung mit dieser Rolle mir den Weg geebnet hat zur "Winterreise". Zeitlich liegt der "Palestrina" ja auch nur wenige Jahre vor meiner ersten "Winterreise".
Dabei hätte "Die Winterreise" für Sie so nahe gelegen. Sie ist ein Tenor-Zyklus.

Ein richtiger Tenor-Zyklus, genau. Und ich glaube, dass auch die Tonarten sehr präzise zueinander passen.
Eben! Wenn ein Tenor die "Winterreise" singt, wird "Der Lindenbaum", in E-Dur, zu einem tiefen, dunklen Lied. Ein Bariton kann das mühelos singen, ohne die Tonart zu verändern. Dann klingt es aber hell und hoch. Die Stimmung ist eine völlig andere, obwohl das ein Lied eines Selbstmörders ist.

Denken Sie nur an die zweite Strophe: "Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu: komm her zu mir, Geselle, hier findst du deine Ruh". Wissen Sie, was der Baum da ruft? Der flüstert ganz zärtlich: "Komm - komm, Junge! - Häng dich auf!"
Das Ganze in E-Dur, der Tonart der Liebe - das ist der Baum als Verführer!

Der Baum als Verführer, ja, ja. Unglaublich, was Schubert da macht. Bei Schumann ist das ganz ähnlich. Ich habe gerade Ende Juni mit Andras Schiff den Eichendorff-Liederkreis aufgeführt. Die Tonarten sind so genau aufeinander abgestimmt, dass man eigentlich kein Lied transponieren darf. Ich habe manchmal Schwierigkeiten mit dem letzten Lied, "Frühlingsnacht", weil es für einen Tenor sehr, sehr tief liegt. Ich wollte es einen Ton höher singen, aber das bekommt dem Zyklus überhaupt nicht. Da entsteht sofort eine falsche Farbe.

Wenn Sie nun bald nicht mehr singen, worauf freuen Sie sich dann am meisten?

Darauf, dass ich nicht mehr von Termin zu Termin planen muss. Dass ich auch mal sagen kann: Heute mache ich gar nichts! Darauf, dass ich endlich ein freier Mensch bin. So ein künstlerischer Beruf kann einem ganz schön Fesseln anlegen.
Sie wollen mehr zu Hause sein, in Dresden?

Nicht nur. Auch in der näheren Umgebung, aber möglichst nicht viel reisen.

-- Das Gespräch führte Jan Brachmann --


Sächsiche Zeitung 30.07.2005
Da tuckert’s mächtig
Meist war er nicht mehr als 50 Tage im Jahr zuhause. Das soll sich nun wirklich ändern. Denn Tenor Peter Schreier sagt: „Ich habe wirklich genug gesungen und möchte noch ein paar friedliche Jahre erleben.“ Damit die gleich wirksam eingeläutet werden, hat sich Schreier selbst beschenkt. Am Freitag feierte er seinen 70. Geburtstag, aus diesem Anlass kaufte er einen kleinen Traktor. „Es wird mir einen Heidenspaß machen, auf meinem neuen Traktor zu sitzen und in die herrliche Landschaft zu schauen“, so der Sänger gegenüber der Zeitschrift Super TV. Und: „Jetzt möchte ich mir meinen größten Wunsch erfüllen: ohne Plan auf dem Land zu leben und endlich für meine Frau zu kochen.“ Die Liebe zur Natur begleitet Schreier seit seiner Kindheit, wuchs er doch in einem kleinen Dörfchen bei Meißen auf. „Wäre ich kein Sänger geworden, dann wahrscheinlich Bauer“, so Peter Schreier. Die Liebe zu seiner Frau Renate begleitet ihn auch fast schon ein ganzes Leben. „Mit 16 hat es zwischen uns gefunkt. Gott muss es so gewollt haben. Denn wir wurden beide am selben Tag und im selben Jahr geboren.“ Also knallten am Freitag gleich doppelt so viele Sektkorken. Gemeinsam mit der Familie feierte das Ehepaar Schreier in Dresden. Und die fünf Enkelkinder werden ihren Opa nun wohl öfter zu Gesicht bekommen.



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