2002




Große Kunst der kleinen Form / Peter Schreier und der Liedgesang
"In Bachs Musik ist kein Platz für Starallüren"
Kirkkomusiikin ja liedin eminenssi
Der Frauenkirche entgegenfiebern
Die Bereitschaft zum Mitdenken und zum Mitfühlen


2017-2020 2013-2016 2010-2012 2007 - 2009 2006
2005 2004 2003 2002 < 2002



Musikfreunde,
Zeitschrift der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Sept/Okt 2002
Große Kunst der kleinen Form
Peter Schreier und der Liedgesang
Ein Schubertiade-Konzert in Schwarzenberg, Juni 2002: Peter Schreier dankt für den frenetischen Schlußapplaus und kündigt die Zugabe an: "Ungeduld". Darauf ein Zuhörer, ihm fast ins Wort fallend und vom Auditorium heftig akklamiert: "Jaaa!!!"

Die Ungeduld, mit der auf die "Ungeduld" gewartet wird - sie ist eines der schönsten Komplimente, das man dem Sänger Peter Schreier machen kann. Bestätigung einer Begeisterung, die über Generationengrenzen hinwegreicht. Noch in den fünfziger Jahren sang Schreier als Student "Die schöne Müllerin" bei einer Rundfunkproduktion. Seit den späten sechziger Jahren gilt er als der führende Vertreter des deutschen Liedgesangs im Tenorfach. Und nun, gut 37 Jahre nach seinem Debüt im Musikverein, gastiert er wieder mit zwei Liederabenden bei der Gesellschaft der Musikfreunde. Auf dem Programm: Beethoven-Lieder und Schuberts "Schwanengesang".
"Anspruchsvoll für den Sänger, aber auch für den Hörer", sagt Schreier selbst, "also genau das richtige Programm für Wien!" Und um gleich mit dem ersten Teil dieses Programms zu beginnen: Bedeutet Anspruch bei Beethoven nicht auch eine unangemessene Beanspruchung der Stimme? "Sicher gibt es einige Anhaltspunkte für die Behauptung, daß Beethoven in seinen Liedern mehr instrumental als sängerisch gedacht hat - dynamische Bezeichnungen wie ,rinforzato' etwa, die klar vom Instrumentalen her kommen. Aber", meint Schreier, "es gibt Mittel und Wege, diese extremen Bezeichnungen - ich will nicht sagen - zu nivellieren, aber doch ,mit Anstand zu umschiffen', sodaß eine kantable Interpretation möglich ist."
Schreier spricht auch hier aus der jahrzehntelangen Erfahrung einer intensiven Beschäftigung. 1970, im Beethoven-Jahr, hat er sich erstmals gründlich auf dessen Lieder eingelassen. Die Faszination ist geblieben. Schreier war einer der ersten, die sich mit reinen Beethoven-Lied-Programmen vors Publikum wagten, und noch heute bricht er gern eine Lanze für Beethoven. Programme, bei denen er Beethoven-Lieder mit Werken von Schubert oder Schumann konfrontiert, fordern ihn, wie er selbst sagt, "besonders heraus, Beethoven in seiner Eigenart, aus seiner Zeit und Kompositionsweise, zu verstehen und zu interpretieren".

Dramen in nuce
Der Blick auf Beethovens Gesamtschaffen ist dabei wesentlich. Denn die Lieder stehen in einem größeren, auch Gattungsgrenzen überschreitenden Entwicklungsgang. "Nehmen Sie das Lied ,Andenken'!", sagt Peter Schreier. "Dessen Hauptthema wird dann später in der viel größer angelegten ,Chorphantasie' ausgebreitet, und die ist dann wieder eine Vorstufe zur Neunten Symphonie. Lieder, könnte man sagen, sehen Beethoven darum ringen, auch in einem intimen Rahmen etwas auszusagen, was dann in den größeren Werken ausgesprochen wird. Sie sind der Versuch - der sehr gelungene Versuch! - die Beethovensche Dramatik auch in der kleinen Form aufzubauen. Und tatsächlich sind ja einige Lieder so unglaublich in ihren Tempo- und Taktwechseln, daß wirklich kleine Dramen daraus werden."

Letzte Lieder
Von Beethoven zu Schubert, vom Beethoven-Zyklus "An die ferne Geliebte" zur "entfernten Geliebten", an die sich die Rellstab-Lieder des "Schwanengesangs" wenden. Tatsächlich gibt es glaubhafte Hinweise darauf, daß Schubert die Rellstab-Texte direkt aus Beethovens Nachlaß übernommen hat - eine frappante Verbindung, und doch, welch ein Unterschied, was für ein Aufbruch in neue Dimensionen ... Schreier sieht in den Heine-Liedern "noch eine gewaltige Steigerung" gegenüber dem ersten Teil des "Schwanengesangs": "mit weniger Mitteln eine größere Aussage, einmalig und genial, unglaublich in die Tiefe gehende Lebensbilder".
Lebensbilder - oder doch eher Todesbilder? Sind diese Lieder, Schuberts letzte vor seinem frühen Ende, Ausdruck einer Nähe zum Tod? Peter Schreier ist da vorsichtig. "Der Österreicher, das weiß ich, neigt ja sehr zu dieser Sicht und liebt es, diese dunkle Seite Schuberts auszukosten und zu genießen. Da bin ich vielleicht weniger vorbelastet von meinem Gemüt ..." Er jedenfalls sieht Schubert in seinen letzten Lebensmonaten nicht als einen depressiven, dem Tod zuneigenden Menschen. "Die Wahrscheinlichkeit seines Ablebens, seines Nicht-mehr-lange-Lebens, die glaubt ja keiner von sich selbst!" Und so erscheinen ihm die ergreifenden Lieder des "Schwanengesangs" auch eher als Ausdruck eines "Lebenskampfes" denn als Zeichen einer "Todessehnsucht". "Ich kann mir nicht so recht vorstellen, daß die Todessehnsucht solche Genieblitze hervorbringt", meint er. "Und ich denke, daß Schubert, hätte er weitergelebt, in diesen Dimensionen weitergearbeitet hätte."

Botschaft der Taubenpost

Freilich: die Frage bleibt letztlich müßig. "Es ist schwer", sagt Schreier, "in die Psyche eines so genialen Komponisten so einzudringen, daß man wirklich sagen könnte, das hat er aus Todesangst oder Todessehnsucht geschrieben ..." Schubert, wie Peter Schreier ihn sieht, zeigt sich noch einmal ganz deutlich in seinem allerletzten Lied, der "Taubenpost". Sicherlich geht es da um ein Zentralthema Schuberts, die "Sehnsucht". "Aber der Schluß, wie Schubert ihn schreibt, ist doch keine Resignation, keine Todesahnung ... Das ist doch eher Hoffnung! Schubert läßt es offen in Dur ... Und eben darin", sagt Peter Schreier, "sehe ich die ganz typische Persönlichkeit Schuberts. Die wird mir zu sehr in dieses Weltschmerz-Fach gelegt!"


Peter Schreier, 2002


Der Weg zur "Winterreise"

Peter Schreier und Schubert: das ist auch die Geschichte einer jahrzehntelangen Entwicklung. Mit dreißig hatte er schon ein beträchtliches Repertoire an Schubert-Liedern, und die "Schöne Müllerin" war das Herzstück darin. Doch erst mit fünfzig wagte er sich an die "Winterreise". "Mein Verhältnis zur ,Winterreise' war geprägt durch Furcht vor dem Zyklus", sagt Peter Schreier heute. "Ich stand vor der Frage, ob ich ihn geistig und seelisch richtig erfassen kann: Habe ich genug durchgemacht, daß ich die Situation der ,Winterreise' auch richtig verstehen kann? Erlaubt mir mein Charakter, meine Veranlagung, die ,Winterreise' überzeugend singen zu können?"
Svajatoslav Richter war es dann, der Schreier aus diesen Zweifeln holte. Er wollte den Zyklus mit ihm aufführen, und die Wiedereröffnung der renovierten Semper-Oper 1985 bot dazu den richtigen Anlaß. Dem Konzert in Dresden gingen 14 Tage Proben in Berlin voraus - 14 Tage! Allein daraus kann man ermessen, wie intensiv die Arbeit gewesen sein muß. "Mir hat natürlich ungeheuer geholfen, daß Richter durch seine Persönlichkeit, ein bißchen auch durch seine Wesensverwandtschaft mit Schubert, einen ganz intensiven Zugang zu diesem Zyklus hatte", sagt Schreier. Was damals entstand, ist bis heute prägend für Schreiers Verständnis der ,Winterreise'
geblieben - mit ganz wenigen Ausnahmen. "Daß wir den ,Lindenbaum' so wahnsinnig langsam gemacht haben, war aus Richters Sicht begründet: Er sah in der zweiten Strophe - ,Komm her zu mir Geselle, hier findst du deine Ruh' - schon einen klaren Hinweis auf Tod und Selbstmord. Aber die Musik wendet sich hier aus dem Moll-Bereich wieder nach Dur ... Und deswegen glaubte ich nicht so recht daran und bin auch heute davon abgekommen."

Selbstverständliche Natürlichkeit

Es ist das Changieren zwischen den Farben, die Schubert ewig faszinierend macht. Hinzu kommt jener Faktor, den Schreier mit dem Wort "volkstümlich" nur unzureichend beschrieben findet. Worum es geht, ist die "Einfachheit", die Fähigkeit, den Zuhörer ganz unmittelbar anzusprechen. In der "Winterreise" sieht Schreier auch diese Schubertsche Qualität vollendet ausgeprägt - genauso übrigens wie in den großen Messen, jener in As-Dur und der in "Es", die er im November als Dirigent der Hofmusikkapelle im Musikverein zur Aufführung bringen wird. "Daß Schubert die höchste Kunst so mit Einfachheit verbinden kann, daß er Töne findet, die das Verständnis und den Geist des Menschen unmittelbar erreichen und ihn doch - unmerklich - in eine andere Welt entführen": das macht für Peter Schreier das ganz Besondere an Schuberts Musik aus.
Dieser Qualität sucht er auch als Interpret gerecht zu werden - und hier treffen sich die Einsicht in Schuberts Welt mit Schreiers eigener Veranlagung. "Ich bin immer mit einer gewissen Natürlichkeit herangegangen", sagt er selbst über seinen Zugang zum Lied. "Etwas hineinzuinterpretieren, das finde ich dem Werk nicht unbedingt zuträglich. Ich meine, es steht genügend in den Noten. Und es gibt viele Möglichkeiten, mit Natürlichkeit, einer selbstverständliche Natürlichkeit zu singen und damit den Zuhörer viel mehr anzusprechen, als wenn ich etwas will. Diese Auffassung stand für mich immer felsenfest: Dort gehörst du hin!"

Fragwürdiger Trend

Wie sieht Peter Schreier ganz generell die Situation im Liedgesang heute? "Es geht leider wieder ein bißchen in Richtung ,Stimme zeigen!'", findet Schreier und führt (diskret ohne Namensnennung) das Beispiel eines erfolgreichen jungen Baritons an, den er kürzlich mit Brahms-Volksliedern im Radio gehört hat - "mit Liedern also, die geradezu herausfordern zu einer unterschiedlichen Gestaltung! Und doch singt das dieser junge Sänger, als sei jede Strophe derselbe Inhalt! Und da dachte ich so bei mir: Was will er? Will er bloß Stimme zeigen? Dann braucht er keine Brahms-Volkslieder zu singen, gerade diese Lieder, in denen soviel Raffinesse steckt, in denen die Begleitung schon soviel vorbereitet ... Nun gut", sagt Schreier attacca fort. "Sie werden jetzt vielleicht sagen: Der hat gut reden, der hat nicht so 'ne üppige Stimme, um unbedingt nur Stimme zu zeigen - und das gilt ja für Fischer-Dieskau in gewissem Maße genauso. Ich meine, da gab es Stimmen, die waren halt üppiger, größer, volumenreicher und so weiter ... Aber das ist ja nicht das Prinzip, das ist ja nicht das Lied! Stimme zeigen kann ich in der Oper! Aber das Lied ist eine Kunstgattung, die diffizilste Gestaltung abverlangt!"

Positive Zeichen

Trotzdem: Peter Schreier registriert mit Freude, "daß die Ära Fischer-Dieskau sicher viele junge Sänger angeregt hat, sich intensiv dem Liedgesang zu widmen. Allein das ist schon mal ein positives Zeichen." Und auch beim Publikum sieht er ein starkes Interesse an der Kunstform Lied: "Die Menschen suchen wieder die intime Beschäftigung mit Kunst und mit Musik, nicht nur das Laute und Spektakuläre, die großen Open-airs, die zig drei Tenöre und was es da alles gibt ... Zu uns kommt ein anderes Publikum. Und hier kann ich den Begriff ,elitär' auch einmal positiv sehen. Wenn wir Liedsänger und das Liedpublikum ,elitär' sind, dann bin ich dafür!"

Postskriptum zum Pensionsalter

Daß er selbst auch einen bedeutenden Anteil an dieser positiven Entwicklung für sich in Anspruch nehmen könnte, sagt er nicht. Große Worte sind nicht sein Fall. Statt dessen spricht er leise vom behutsam erwogenen Abschied. "So langsam denke ich daran, mich als Sänger etwas mehr zurückzunehmen. Ich möchte nämlich nicht, daß man sagt: ,Na ja, früher hat er alles viel schöner gemacht, da klang die Stimme noch ...!' Und diesen Moment sollte man doch gut abpassen ..."
Ist das in Wien nicht ein bißchen anders, in dieser Stadt, die den großen, über Jahrzehnte geliebten Sängern gerne einen besonderen Bonus gewährt? Und diesen Bonus hat Peter Schreier, Ehrenmitglied des Musikvereins, doch allemal ... Schreier bleibt Realist und reagiert pfiffig: "Auch dieser Bonus kann mildernde Strafe sein! Nein, nein, die Leute sollen mich in guter Erinnerung behalten. Und das war's dann auch ..." J.R.


Leipziger Volkszeitung & Dresdner Neueste Nachrichten 24./25.06.2002
"In Bachs Musik ist kein Platz für Starallüren"

Erstmals seit Bestehen des Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerbs, der ab heute zum 13. Mal in Leipzig stattfindet, ist der Tenor Peter Schreier Mitglied der Jury im Fach Gesang. Wir sprachen mit dem weltweit gefeierten Sänger über sein Verhältnis zum großen Thomaskantor und die Bedeutung internationaler Musik-Wettbewerbe in der heutigen Zeit.

Frage: Was war Ihr Schlüsselerlebnis in Sachen Bach?
Peter Schreier: Ich habe als Knabenalt im Kreuzchor viel Bach gesungen. Überhaupt bin ich durch Bachs Großwerke wie Weihnachtsoratorium, h-moll-Messe und die Passionen erst darauf gekommen, Sänger von Beruf zu werden. Mein Verhältnis zu Bach ist von der Rolle des Evangelisten geprägt. Bach hat in diesen hochdramatischen Part vielleicht am meisten Herzblut hineingelegt.

Sie sind zum ersten Mal Juror beim Bach-Wettbewerb. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich habe mich bislang sehr auf das eigene Konzertieren konzentriert. Ich war nie in größerem Umfang pädagogisch tätig und saß auch erst zwei oder drei mal in einer Jury. Als Lehrer bin ich wohl zu ungeduldig, jedenfalls beschränke ich mich auf gelegentliche Meisterkurse, bei denen man mit fertig ausgebildeten Stimmen arbeitet. Die Tätigkeit als Wettbewerbs-Juror hat mich eigentlich immer ein wenig abgeschreckt, denn viele Wettbewerbe gleichen einem stilistischen Tohuwabohu. Das ist beim Bach-Wettbewerb aber anders.

Inwiefern?

Es ist ein sehr spezieller Wettbewerb, der nicht nur Virtuosität verlangt, sondern vor allem künstlerische Reife. Niemand kann Bach wirklich gut singen, ohne diese Reife zu besitzen. In Bachs Musik ist kein Platz für Starallüren. Das hat dieser Wettbewerb anderen Konkurrenzen voraus.

Was meinen Sie sind Wettbewerbe die Sprungbretter zur ganz großen Karriere?

Sie können es sein, aber sie sind es nicht zwangsläufig. Ich habe bei keinem berühmten Lehrer studiert und habe auch keinen renommierten Preis gewonnen und trotzdem meinen Weg gefunden. Wer wirklich etwas kann, setzt sich früher oder später auch ohne Medaille durch. Andererseits wird es für junge Menschen immer schwieriger, ihre Leistungen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. So gesehen ist ein großer internationaler Wettbewerb wie der Bach-Wettbewerb eine wichtige Hilfe beim Start ins Berufsleben.

Was wünschen Sie den rund einhundert Sängern, die aus aller Welt nach Leipzig kommen?

Ich wünsche den Sängern und uns allen hochwertige künstlerische Erlebnisse und Erfahrungen, die das rein Rechnerische einer Rangfolge vergessen lassen. Letztlich hat es immer hervorragende, bessere und weniger gute Musiker gegeben. Die Jury wird zwischen ihnen unterscheiden und die besten zum Preisträger küren.
Interview: Jörg Clemen


Turun Sanomat 13.06.2002
Kirkkomusiikin ja liedin eminenssi
Kirchenmusik und Lieder Eminenz / Church music und lieder eminence

Peter Schreier in Naantali (Finland), 06/2002.
Interview in finnischer Sprache / in Finnish language

Link: Artikel / article in Turun Sanomat


Münchener Merkur 12.01.2002
Der Frauenkirche entgegenfiebern
Peter Schreier singt in München

Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche zählt zu den erfolgreichsten Bürgerinitiativ-Projekten der Gegenwart, auch in München engagieren sich die "Freunde der Dresdner Frauenkirche e.V.". Zugunsten des Wahrzeichens singt Tenor Peter Schreier, dessen musikalische Karriere sehr eng mit Dresden verbunden ist, am Montag im Prinzregententheater. Auf dem Programm: Franz Schuberts "Winterreise". Am Flügel begleitet Helmut Deutsch. Mit Peter Schreier sprach Dorothea Hußlein.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Frauenkirche vor ihrer Zerstörung?
Schreier: Also, ich war natürlich noch sehr klein. Wir hatten als Vorbereitung für den Dresdner Kreuzchor die Gelegenheit, zum Beispiel in der Matthäus-Passion mitzusingen, und da habe ich eine Aufführung in der Frauenkirche miterlebt. Ich weiß noch, dass ihre Ausstattung ziemlich überladen war. Die meisten Erinnerungen drehen sich aber um die Ruine der Frauenkirche, die für uns nicht wegdenkbar war und ist. Ich gehörte nicht unbedingt gleich zu den Befürwortern des Wiederaufbaus, weil ich glaubte, dass ein solches Denkmal noch mehr an die Zerstörung Dresdens erinnern kann und dass zunächst einmal das Geld in Dinge gesteckt werden müsste, die in der Stadt wichtiger sind. Aber durch diese Privatinitiative und das ungeheure Echo, das der Wiederaufbau in der ganzen Welt gefunden hat, bin ich jetzt sehr glücklich, dass man mitfiebernd der Fertigstellung entgegensieht.

Geplant ist die Wiedereröffnung 2006, pünktlich zur 800-Jahr-Feier Dresdens. Planen Sie bis dahin noch weitere Benefiz-Aktivitäten?
Schreier: Eigentlich laufend. In Dresden wurde für ein weiteres Projekt gesammelt, für die Synagoge. Ich war dort auch engagiert. Aber die Fördergesellschaft ist inzwischen aufgelöst worden, weil die Synagoge ja nun steht. Die Unterstützung lief teilweise parallel zu den Aktionen für die Frauenkirche. Es wurden also zum Beispiel Konzerte im Frauenkirchen-Keller veranstaltet, deren Erlös in die Synagoge floss.

In München werden Sie Schuberts "Winterreise" singen. Gibt es einen speziellen Hintergrund?
Schreier: Nein. Für ein Projekt wie die Frauenkirche muss man etwas wirklich Reizvolles für die Zuhörer, speziell für das Liedpublikum wählen. Dazu kommt natürlich noch die Jahreszeit, die sich sehr für den Zyklus eignet. Und als Letztes vielleicht auch noch meine besondere Beziehung zu diesem Werk. Ich habe die "Winterreise" erst ganz spät in Angriff genommen, also mit meinem 50. Lebensjahr, weil ich einfach glaubte, dass ich die Reife für die Interpretation noch nicht hatte. Und dass ich das Erleben einer Situation, wie sie hier geschildert wird, noch nicht nachvollziehen konnte.

Sie haben die "Winterreise" inzwischen gut 100 Mal gesungen. Mit wechselnden Klavierbegleitern?
Schreier: Ja, das halte ich für sehr wichtig. Oder sagen wir: für sehr kreativ, weil man durch jeden Begleiter neu angeregt wird. Wenn ich ein Programm, gerade diesen "Winterreisen"-Zyklus singe, dann muss ich von vornherein ausschalten, dass etwas automatisiert wird. Man kann es auch mit dem bösen Wort "Routine" ausdrücken. Ich habe Zeit meines Lebens immer vermieden, dass ich auf einen Begleiter festgelegt war. Das ist ja genauso, wenn ich ständig vor anderem Publikum, teilweise in anderen Räumen singe.

Was gibt es für Sie immer wieder Neues zu entdecken?

Schreier: Vielleicht nicht unbedingt Neues zu entdecken, aber etwas aus den Stimmungen heraus zu entwickeln. Wir Menschen sind alle besonderen Stimmungen unterlegen. Aber das ist es nicht allein. Ich glaube auch, dass die hektische Zeit heute, die Zeit, in der man von den Medien geradezu bombardiert wird, dass alle diese Komponenten eine Spannung im Sänger erzeugen, so dass man seine Interpretation immer wieder verändert. Und in der Veränderung überhaupt liegt ja der Reiz der Musik. Der Reiz, eine Momentanstimmung aufzunehmen und sie auf das Publikum zu übertragen.

Main Post 05.01.2002
Die Breitschaft zum Mitdenken und zum Mitfühlen
Ein Gespräch mit Peter Schreier nach einem Konzert bei der Schubertiade in Schwarzenberg

Peter Schreier galt als der "Vorzeige-Sänger" der ehemaligen DDR. Als zehnjähriger Bub schon hat er als Altus im Dresdner Kreuzchor mitgesungen. Seit Beginn seiner weltweiten Karriere gilt er als einer der hervorragendsten Liedsänger. Von 1967 an hat er für 25 Jahre bei den Salzburger Festspielen mitgewirkt, doch seit Juni 2000 hat er sich nach 41 Jahren als Opernsänger völlig zurückgezogen. Jedoch wirkt er nach wie vor als Dirigent und lyrischer Tenor. Nach einem gefeierten Liederabend bei der Schubertiade hat sich der immer noch vielbeschäftigte Sänger die Zeit genommen einige Fragen in der stimmigen Atmosphäre eines gemütlichen, österreichischen Romantikhotels für unsere Leser zu beantworten.


Peter Schreier in Hotel Hirschen, Schwarzenberg, 03.09.2001. Photo: Gabi Zahn (Bad Bocklet).

Wie würden Sie entscheiden: Bach oder lieber Mozart?
Peter Schreier: Diese Frage ist natürlich gleich eine ganz große Herausforderung für mich; denn ich kann diese zwei Komponisten nicht trennen. Sie hängen beide ganz eng mit meiner Laufbahn zusammen. Bach geht natürlich noch weiter zurück in meine Knabenchorzeit, er hat mich geprägt, - und Mozart hat mir meine ganze Opernlaufbahn vorgezeichnet. Also, ich würde da keine Klassifizierung vornehmen können. Beide gehören zu meinen Favoriten. Doch da kommen vielleicht auch noch Schubert und Schumann dazu. Aber irgendwie sind Bach und Mozart schon zwei Welten und man kann sie natürlich unterscheiden, alleine vom Hörerlebnis. Aber nur Bach ist, wenn man so will, die Grundlage für alle großen nachfolgenden Komponisten. Und keiner schämt sich dessen, sondern beruft sich auf Johann Sebastian Bach.

Mozart, was ist das Besondere für Sie bei seiner Musik?
Peter Schreier: Wenn ich das in einem Satz sagen darf, dann würde ich sagen: dass er auch im Schmerz noch heiter sein kann.

Wie vertragen sich damit Wagner-Rollen? Ist das nicht total gegensätzliche Musik?
Peter Schreier: Wagner müssen Sie in meinem Falle von einer anderen Warte sehen. Ich bin ja mit den Evangelistenpartien in Bachs Passionen groß geworden und alleine Herbert von Karajan hat mich nach einer Matthäus Passionsaufnahme dazu herausgefordert. Er sagte: "Wenn ich Ihren Evangelisten höre, könnte ich mir vorstellen, dass Sie einen ganz fantastischen Loge singen!" Und bis dahin hatte ich vom Ring überhaupt keine Ahnung.
Doch eigentlich muss man gar nicht mal so sehr differenzieren. Was ist das Singen denn wirklich? Es ist der Zwang zur deutlichen Diktion und der Mut seine Stimme auch mal zu verändern, und nicht immer nur "schönen" Klang zu bieten, sondern eben eine Partie zu charakterisieren. Und das macht sich natürlich gerade bei so einer Partie wie dem Loge oder dem David in den Meistersingern sehr gut. Und es ist ja auch von Wagner so komponiert, dass man durchaus nicht überfordert wird als lyrischer Tenor. Das ist keine schwere Heldenpartie. Ich meine, früher wurde das zwar von den Heldentenören gesungen, aber das war dann auch dementsprechend. Es wurde eben nur losgesungen. Da war keine Farbe. Gerhard Stolze hat eigentlich als erster so was als Charaktertenor gesungen, und das ist bis heute so geblieben, und das mit Recht.

Die Expressivität, die Ihre Musik auszeichnet. Ist sie an erlernt oder von innen spontan empfunden?
Peter Schreier: Zunächst mal: wenn Expressivität an erlernt wäre, dann würde ja jeder Abend genauso sein. Und das ist er nicht. Sie werden bei mir nicht erleben, dass, - weder bei einem Liederabend, noch bei der Partie eines Evangelisten, jemals eine Interpretation gleich ist. Sie ist immer anderes. Und sie wird eigentlich auch immer aus dem Augenblick heraus gestaltet. Es gibt ja so viele Komponenten, die dazu führen, dass man bei all den vielen Aufführungen, die man gesungen hat, angeregt wird. Man denke nur an den Raum, oder an die Mitmusizierenden, den Dirigenten, oder, auch an das Publikum, das einen schon beeinflusst. Wenn man das Gefühl hat ein sehr konzentriertes Publikum vor sich zu haben, dann hat das sofort Auswirkungen auf den Künstler auf der Bühne. Also jedenfalls ist das so bei mir!

Musik als Klangrede ist Sprache in Tönen, das heißt Ausdeutung der Kompositionen nach deren inhaltlicher Aussage.
Peter Schreier: Was heißt denn Klangrede eigentlich? Für mich heißt das dynamisches, plastisches Musizieren. Ich meine Rede ist ja immer Sprache, und, wenn in der Musik keine Sprache da ist, kann man eigentlich auch nicht von Rede sprechen. Ich glaube, der Ausdruck ist einfach nicht richtig gewählt. Denn man will ja etwas bewirken, was in Wirklichkeit eigentlich gar nicht machbar ist. Ich weiß schon, was Harnoncourt damit meint, mit der Klangrede. Nämlich, dass man wirklich spürt, welche Stimmungen, welche Situationen in dieser Musik gerade zu hören sind, und nicht, dass die Musik, wie so ein Perpetuum Mobile ohne Nuancen und ohne individuelle Interpretation abläuft.

Wie kommen nun Sie zu so einer stimmigen Interpretation?
Peter Schreier: Das ist natürlich die jahrelange Beschäftigung mit dieser Literatur, und auch das, was man im Laufe seines Lebens gelesen hat, was man auch von anderen Musizierenden als Anregung bekommen hat. Man kann eigentlich ganz allgemein sagen, dass es das Ergebnis davon ist, sich intensiv und lange mit einem Werk beschäftigt zu haben.

Wodurch werden Ihre persönlichen Interpretationen lebendig und spannend, sodass Gesang an sich etwas ausdrückt?
Peter Schreier: Ich glaube, das ist überhaupt einer der ganz entscheidenden Punkte, auf den es in der Musik, speziell im Gesang ankommt. Es hat keinen Sinn schöne Töne zu zeigen, oder schöne Stimmen, oder gar große Stimme. Für mich ist das Kriterium einzig und alleine die Aussage, die hinter der Person des Künstlers, des Interpreten steht. Und die verlangt einfach, dass man das Publikum anspricht und es einbezieht, in das, was man denkt und singt.
Und es geht mir nach wie vor auf die Nerven, wenn ich im Radio Aufnahmen höre, in denen ein Sänger nur schön und glatt singt, und ich keinerlei Eindruck von dem habe, was er singt. Aber es gehört sicherlich zu einer ausdrucksstarken Interpretation ein gewisser Mut; denn man geht ungern von der Stimme weg, und will ungern den Wohlklang der Stimme vermindern oder aufgeben. Doch es muss ja nicht gleich hässlich klingen, aber es muss irgendwo eine Farbe haben, die den Hörer interessiert.

Demzufolge erübrigt sich fast die Frage nach dem "Wichtigsten" in der Musik? Ist es der musikalische Ausdruck oder technische Virtuosität?
Peter Schreier: Die technische Virtuosität ist eigentlich die Voraussetzung für die musikalische Gestaltung. Und es ist ja nicht nur die musikalische Gestaltung! Im Prinzip ist es, wenn man vom Sänger ausgeht, ja auch die sprachliche Gestaltung, das Einbeziehen der Möglichkeiten, die uns die Sprache gibt durch das Herausstellen eines bestimmten Wortes, oder durch die Einfärbung eines bestimmten Wortes. Ich bin sowieso ein Fanatiker der Sprache und habe was dagegen, wenn man Lieder hört und dabei nur wenig verstehen kann.

Was ist für Sie das ausdrucksstärkste, intimste, innigste, feinste Ausdrucksmedium des Gesangs? Oper, Oratorium, Messe oder Lied?
Peter Schreier: Das ist ganz klar! Dort, wo man am meisten Ausdruck und Verinnerlichung findet, - das ist das Lied, einwandfrei! Aber es verlangt natürlich vom Hörer eine große Bereitschaft mitzudenken und mitzufühlen. Ich meine bei einer Oper, einem Orchesterkonzert oder einem Oratorium, dort ist erst mal das "Spektakel" als große "Show" für den Zuhörer einfacher zu begreifen, weil auch das Auge dort was geboten bekommt. Das Lied dagegen ist eine viel subtilere Sache! Hier ist es eben auch eine Frage der Bereitschaft auf der Seite des Sängers das Innerste zu geben und auf der Seite des Hörers sich da hineinzuhören. Aber ich habe immer, besonders in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass es dafür immer ein Publikum gibt. Und das ist dann immer auch ein ganz besonderes.

Was fasziniert Sie am Dirigieren?
Peter Schreier: Eigentlich fasziniert mich überhaupt nichts am Dirigieren. Es geht mir nur darum, wie ich meine Vorstellungen selbst umsetzen kann.
Das betrifft zuerst die Bach'schen Werke, die ich ja seit Jahrzehnten singe. Natürlich habe ich da nach so langer Zeit eine ganz bestimmte Interpretationsvorstellung. Und diese kann man eben nur durchsetzen, wenn man selbst dirigiert. Wollte man es negativ ausdrücken, könnte man sagen, dass das Dirigieren vielleicht etwas ganz Egoistisches ist.

Sie sagten, dass Sie nur noch beschränkte Zeit singen wollen. Was planen sie danach ? Werden Sie dennoch dann weiter dirigieren?
Peter Schreier: Na ja, was heißt singen wollen? Ich bin 66 Jahre und da ist das einfach so. Das kann ich gar nicht beeinflussen. Es geht vielleicht noch zwei, drei Jahre, aber ich stecke mir da kein Ziel. In der Oper, da habe ich ja schon voriges Jahr aufgehört. Vielleicht werde ich auch danach noch dirigieren, aber ich will mich da nicht festlegen, denn eigentlich will ich auch einfach nur mal leben. Ich stehe seit meinem 10. Lebensjahr, - ich will nicht gerade sagen unter diesem Stress, aber da hat man doch auch mal das Recht loszulassen. Und im übrigen ist es ja auch so, dass man nichts Halbes machen kann. Man kann nicht sagen, jetzt mach ich nur noch die Hälfte und nehme das alles mal ein bisschen locker. Das geht nicht. In einem künstlerischen Beruf muss man immer voll da sein. Da gibt es nun mal keine halben Sachen. Halbtagsarbeit, oder so was, ist da nicht drin.

Meisterkurse und Unterricht. Werden Sie vielleicht nun verstärkt zum Pädagogen, zum Didaktiker, um eigene Erfahrungen weiterzugeben?
Peter Schreier: Das ist nun eine Frage, die für mich fast peinlich ist; denn ich habe dafür, glaube ich nicht genügend Geduld. Und andererseits habe ich auch Vorbehalte, wenn ich unterrichte; denn ich weiß ja noch längst nicht, ob ich meinen Schülern das Singen beibringen kann. Das hängt doch auch sehr stark von den Schülern ab! Ob sie das begreifen, was ich sage. Denn es gibt ja viele Wege, die nach Rom führen und die letztendlich Erfolg bringen können. Und, weil ich das nicht garantieren kann, möchte ich diese Verantwortung auch nicht übernehmen. Ich gebe hin und wieder mal Interpretationskurse, das eine Sache, da kann ich mich artikulieren und habe auch das Gefühl, dass man da was zu sagen hat, und das wird ja auch gut abgenommen. Aber auch dort gibt es schon wieder Probleme, wenn ich im Kurs Leute dabei habe, die technisch noch nicht fertig sind. Dann hat das alles nicht viel Sinn; denn dann können sie das nicht umsetzten, was ich zeige und von ihnen erwarte.

Welch Musik hören Sie privat gerne?
Peter Schreier: Jazz!! Oscar Peterson, das ist mein Favorit.

Was genießen Sie besonders im Privaten, vielleicht ein schönes Essen?
Peter Schreier: Das nicht so besonders, da muss ich leider immer sehr aufpassen, dass nicht zuviel ansetzt, aber privat genieße ich meine Hang zur Natur. Wäre ich nicht Sänger geworden, wäre ich liebend gerne Bauer geworden.

Weltweit haben sie unglaublich viele Fans. Da gibt es sicher angenehmere und auch eher aufdringliche. Wie wird man mit dieser zweiten, eher unangenehmen Fangruppe fertig?
Peter Schreier: Oh ja, sehr wohl ! Solche Fans haben ja auch keine Einsicht, wenn man zu ihnen mal deutliche Worte spricht. Die werden dann wahrscheinlich, - ich nehm's an, doch sehr, sehr verärgert reagieren. Deswegen muss man einfach diplomatisch sein und aufdringliche Fans halt hinnehmen. Aber es sind nur ganz wenige, die versuchen einem zu nahe zu kommen.

Sogar in Japan gibt es begeisterte Anhänger von Ihnen. Existiert dort immer noch der Japanische Schreier-Fanclub?
Peter Schreier: Ja, ja, das sind ganz liebe Leute! Immer, wenn ich in Japan bin, machen wir dann dort mit denen ein Treffen. Da werden dann Bilder und Daten ausgetauscht und alle möchten wissen, was ich mache und wo ich mich aufhalte.

Was sind oder waren für Sie die Gipfel der künstlerischen Anerkennung?
Peter Schreier: Das waren mehrere. Doch vielleicht war eine der schönsten Ehrungen, die ich bekommen habe, die Ehrenmitgliedschaft im Musikverein in Wien, wo auch Beethoven und Schubert Ehrenmitglieder sind. Das hat mich wirklich sehr angerührt.

Gabi Zahn am 3. September 2001.