back / zurück

FonoForum Juli 1977


Ein sehr normaler Mensch
Gespräch mit Peter Schreier von Wolf-Eberhard von Lewinski


Peter Schreier


Peter Schreier ist zum Inbegriff des deutschen lyrischen Tenor geworden. Er gilt mit gutem Grund als unerreichter Bach-Sänger, als idealer Mozart-Interpret, aber auch als ein Oratorien- und Liedsänger der Romantik. Mehrere Schallplatten-Firmen müssen bemüht werden, um Schreiers Aktivität allein schon auf diesem Gebiet genügen zu können. Der 1935 in Meißen bei Dresden geboren Sänger, der seine musikalische und stimmliche Grundausbildung im Kreuzchor zu Dresden fand, lebt in Dresden, wo er auch häuftig Schallplatten-Aufnahmen macht. Als Opernsänger gehört er der Berliner Staatsoper, der Wiener und der Münchener Staatsoper an, schränkt das Gastieren, das ihn früher bis hin zur Metropolitan geführt hatte, nach Möglichkeiten etwas ein - aus gesundlichen Gründen ("ich habe zu hohen Blutdruck"), nicht wegen der Stimme ("viel singen schadet nicht"). Aber es fällt ihm schwer, ein Angebot auszuschlagen, weil er gutmütig ist und sich leicht zu Konzerten verleiten läßt, wenn man genügend Argumente anbringt ("Eitelkeit und Ehrgeiz spielen da vielleicht auch eine Rolle"). Mit sympathischer Nonchalance lebt Schreier nicht als Star, sondern als ein sehr normaler Mensch, der sich allerdings seine Gedanken über das Musizieren macht - ob es sich nun um das Singen oder das Dirigieren (neuerdings auch für die Schallplatte) dreht: für Schreier ist die Möglichkeit zu musizieren entscheidend, wenn auch das Musizieren mit den Mitteln der Stimme noch im Vordergrund steht. Neben der Klassik ist es auch eine gehobene, volkstümliche Unterhaltungsmusik, die Schreier zu singen nicht scheut ("Mozart-Platten erzielen auch bei mir nicht annäherend so hohe Auflagen wie U-Musik-Aufnahmen").

Weshalb singen Sie auf Platte auch U-Musik-Titel, des Geldes wegen?
Nein, in Geldsachen habe ich eigentlich keine Sorgen. ich könnte auch gut leben, ohne jene Titel zu singen. Ich singe sie, weil ich einem Bedarf des Marktes erfülle, Hörerwünsche sozusagen. Ich habe dabei natürlich eine Grenze zu ziehen - einige Titel haben eine so schwache Substanz, da
ß man in der Auswahl sehr kritisch sein muß. Auch deshalb, weil ich Bach-Sänger bin, ein großes Publikum habe, das Bach von mir hören will. Und auch auf diese Hörer muß ich rücksicht nehmen. Denn es gibt eine Unzahl unter ihnen, die es nicht verstehen und sagen: "Wie kann der Mann so etwas singen, wenn er auch Bach singt". Ich bin anderer Meinung. Es kommt auf die Einstellung an, mit der man jeweils hier Bach, dort U-Musik singt; darauf, wie U-Musik gesungen wird. Wichtig ist, daß ich mich in der Stilistik der verschienen Genres zurecht finde, nie die Bereiche vermenge, Bach oder Mozart es nicht anmerken lasse, daß ich auch einmal eine sogenannte Schnulze singe. Dazu gehört sowohl eine innere Einstellung als auch die stimmtechnische Konsequenz daraus. Und - so, wie ich gern guten Jazz und gut gemachte Unterhaltungsmusik höre, neben Beethoven und Bruckner eben, so meine ich, auch beides interpretieren zu können.

Operette singen Sie aber nicht?
Nein, gar nicht - Operette singen ist auch sehr schwer. Léhar-Operetten beispielsweise haben es sehr "in sich", hinsichtlich dessen, was gerade vom Tenor verlangt wird. Das ist wahnsinnig anstrengend. Und da käme die Gefahr auf, da
ß ich mir die Stimme für Mozart oder Bach ruinierte. Tauber etwa war ein stimmliches Phänomen, außerdem zog er, wenn man hart urteilen will, die stilistischen Grenzen zum Lied, zu Mozart nicht so exakt, ließ in sein Mozart-Singen eben doch Operette-Stilistik eindringen. Für die Operette freilich hatte er einen ungeheuer guten Geschmack.

Es ist auch eine Frage des Timbres: Sie singen hell und klar, nicht schmalzig genug für die Operette.

Das stimmt. Es ist Geschmackssache, ob man mehr hell oder dunckel singen will. Viele meinen, Mozart oder Bach müßten hell gesungen werden, ich finde es nicht. Wie ich färbe, weiß ich eigentlich nicht, ich tue es eben. Eigenartigerweise empfinde ich selbst meine Stimme als dunkel, während viele sagen, sie hörten sie als eine helle Stimme. Es gibt sicher auch verschiedene Hör-Kriterien. "Was ist hell", müßte man fragen. Ich versuche, bis in die äusterte Höhe, also bis zum "a"und "b" klar und hell zu bleiben. Dramatische Tenöre gehen bereits bei "g" in eine Verdunkelung, dunkeln die Töne ab. Das ist nicht mein Bestreben.



Hängt das alles auch damit zusammen, da
ß Sie bei den Kruzianern ausgebildet wurden oder ist es vom Stimmtyp her vorgegeben?
Hier berühren Sie eine entscheidende Frage. Ich bin natürlich geprägt vom Klang - und von der Stilistik - der sächsischen Knabenchöre. So ist für mich das instrumentale Singen die schönste Form des Singens. Unbewußt bringe ich diese Dinge alle in meine Sängerlaufbahn ein - ich bin also vorbelastet. Was man in der Jugend gelernt hat, das bleibt - und ich will auch gar nicht von diesen Eindrücken weg. Es ist also theoretisch möglich, daß ich, hätte ich jene Ausbildung nicht mitgemacht, ein italienischer Tenor geworden wäre.

Vermissen Sie - als etwas, was man gern hinzunähme - das italienische Legato-Singen nicht?

Das vermisse ich für mich überhaupt nicht, obwohl ich es von italienischen Stimmen gern höre - wobei ich italienische Männerstimmen lieber als die weiblichen höre, für die ich nicht das Ohr habe. Ich bringe auf meine Art für die Literatur, die mich interessiert, genügend stimmliche Mittel mit, die auch noch längst nicht ausgeschöpft sind. Für mich gesehen: ich fühle mich nicht als Stimm-Fetischist oder -Fanatiker, weil ich, pauschal gesprochen, in erster Linie Musik machen will. Ich will auf jeden Fall vermeiden, daß das Singen langweilig werden könnte. Ich möchte alles interessant gestalten - auch wenn es sich um ein Volkslied handelt, das - mit seiner Geschichte - zu einer kleinen dramatischen Szene werden muß.

Sie suchen also - wie in der Oper - eine textbezogene Interpretation?

Ja, denn wie gesagt, Stimme nicht als Selbstzweck ist mein Prinzip. Auch wenn ich in der Oper gewissen Beschränkungen unterworfen bin - durch Regie, durch den Dirigenten, durch räumliche Entfernungen -, so habe ich doch im Lied, im Konzert Möglichkeiten, meine Vorstellungen zu realisieren. Ideal bleibt, wenn man Text und Musik auf einen Nenner bekommt. Ich neige zwar mehr dazu, den Text zu bevorzugen, bemühe mich aber, aus dem Text die Möglichkeiten zu suchen und zu finden, die einmal die Melodie zeigt, auf der anderen Seit die Diktion. Fast in allen Liedern ist das möglich. Und wenn der Text - denken wir an die Oper - nicht Anlaß gibt, ihn zu betonen, hat der Sänger ja noch sein Timbre, auf das er sich verlassen kann. Wo der Text ihn im Stich läßt, muß er mit stimmlichen Mitteln den Ausdruck finden.

Gibt es aber nicht auch Diskrepanzen zwischen Text und Musik, etwa bei Schumanns Heine-Liedern - wie entscheiden Sie sich dann? Für wen?
Das ist ein gesondertes Problem. Bei diesem Beispiel finde ich auch, daß Schumann Heine nicht ganz verstanden hat, hinsichtlich der Ironie vor allem; es geht nicht alles konform. Da die Musik hier aber so stark ist, im Vordergrund steht, entschiede ich mich für Schumann, verzichte auf das Hintergründige von Heine.

Wenn Sie hier Lied, dort Oper singen - steuern Sie das, um nicht zu schnell umschalten zu müssen, so daß der eine Teil unter dem anderen leiden würde?
Ich liebe die Abwechslung. Ich habe es nicht gern, vierzehn Tage nur Liederabende zu singen. Ich muß dazwischen Oper oder Oratorium singen. Ich machte kürzlich eine Liedertournee durch große Städte Osteuropas. Da habe ich - vorgeplant - eine Woche Wien dazwischengeschoben, in der ich zweimal die "Cosi" sang, um nicht in die Routine zu verfallen. Ich wechsle ganz absichtlich, weil ich meine, daß man heute beispielsweise nicht nur Liedersänger sein sollte. Ich glaube, daß die Oper gewinnt, wenn man immer wieder das Lied dazwischen pflegt - und umgekehrt. Beim Lied muß man instrumentaler und kontrollierter singen, was der Oper zugute kommt. Wenn ich heute Mozart stilgerecht bringen will, ist instrumentales Liedsingen die Voraussetzung. Stilgerecht heißt da für mich, daß sängerische Unarten, die sich immer wieder beim Operngesang einschleichen, bei Mozart viel schwerer ins Gewicht fallen als bei den späteren Komponisten. Man kann also bei Mozart nicht schlampen. Solange ein Sänger von der Stimme her Mozart singen kann, sollte er sich bei Mozart stets kontrollieren, auch wenn er lieber Wagner singt.


Peter Schreier


Wir reden hier miteinander, obwohl Sie heute Abend zu singen haben - viele Ihrer Kollegen scheuen sich, zu sprechen, wenn sie am Abend singen.
Manche reden zwei Tage vor dem Auftritt kein einziges Wort. Ich halte das für übertrieben. Ich singe mich mit dem Sprechen ein. Wenn ich morgens aufwache, erste Töne spreche, weiß ich schon, in welcher stimmlichen Verfassung ich bin. Wenn sie nicht gut zu sein scheint, dann muß ich mich extra einsingen. Da hat jeder seine eigene Methode. Ich wähle eine etwas gefährliche - ich lasse die Stimme immer von der vollen Stimme in das Falsett umschlagen, um das Punkt zu finden, wo die Stimme im Kopf anschlägt. Ich spreche auch in meiner Stimmlage, so daß mich das Sprechen nicht anstrengt.

Was ist es, das Sie anstrengen und die Stimme gefährden könnte?

Das viele Reisen, das Umschalten in klimatischer Hinsicht, die Anspannung, jeden Tag das Äußerste geben zu müssen, weil man den hochgeschraubten Erwartungen des Publikums entsprechen möchte. Und so schränke ich, um den Körper, die Nerven zu schonen, das Reisen etwas mehr ein als es früher der Fall war. So verlockend es wäre, jetzt beispiesweise einem Ruf der Met zu folgen, im "Giovanni" zu singen oder nach London an die Covent Garden Opera zu gehen, was man mir angeboten hatte.

Können Sie die DDR zu Gastspielen ungehindert verlassen oder haben Sie wie die sowjetischen Kollegen Zeitbeschränkungen?
Ich weiß nicht, wie es den Kollegen in der Sowjetunion geht, ich kann singen, wo ich will, ohne Beschränkungen. Das wird natürlich mit unserem Ministerium für Kultur abgesprochen.



Wie oft haben Sie an der Berliner Staatsoper zu singen?

Ich habe einen Vertrag für 35 Abende, den ich erfülle; ganz gleich, welche Rolle ich aus meinem Repertoire singe - es ist auch einmal ein Holländer-Steuermann dabei. Hinsichtlich der Termine nennt der Vertrag den Passus "im beiderseitigen Einvernehmen".

Werde die Engagements von Ihnen oder von der staatlichen Agentur bestimmt?

Die Engagements kann ich selbst bestimmen, die Abwicklung erfolgt über die Künstleragentur - auch die finanzielle: ich gebe einen gewissen Prozentsatz ab, ein anderer bleibt mir.

Gilt die für Sie praktizierte Reisefreiheitzügigkeit auch für Kollegen?

Die DDR sieht natürlich darauf, daß ihre Künstler mit repräsentativen Aufgaben und an entsprechenden Orten auftreten. Ich glaube, daß relativ viele reisen - so traf ich Kollegen von verschiedenen DDR-Opernhäusern kürzlich in Wien.

In Dresden, wo
Sie Ihr Haus haben, Ihre Familie wohnt, machen Sie bevorzugt Schallplatten-Aufnahmen, singen öffentlich aber nur selten.
Ich singe regelmäßig Konzerte oder Oratorien. Allein vom hochmodernen Aufnahmestudio der Lukaskirche her - dem schönsten, das ich kenne -, dann durch die Dresdner Staatskappelle bin ich tatsächlich oft zu Schallplattenproduktionen in Dresden. So habe ich gerade für Eurodisc die Schubert-Sinfonien Nr. 5 und Nr. 7 als Dirigent aufgenommen.

Sie Arbeiten mit fast allen Firmen zusammen - wie geht das?
Nun, ich bin exklusiv gebunden an VEB Schallplatten, werde aber freigegeben, wenn es sich aus firmenpolitischen Gründen machen läßt, um dort zu singen oder mitzuwirken, wo es verlangt wird. So habe ich mit Karl Richter für die Archiv-Produktion gearbeitet, die jungen Mozart-Opern in Salzburg aufgenommen - alles keine Koproduktionen mit VEB Schallplatten; auch nicht die h-moll-Messe unter Karajan. Koproduktionen kommen natürlich auch vor, so kürzlich die "Genoveva" von Schumann in Leipzig mit Edda Moser und Fischer-Dieskau - für VEB und EMI.

Welcher Pläne gibt es?
Drei neue Liedplatten pro Jahr. Zum Beispiel eine Strauss-Platte und eine mit unbekannte Schubert-Liedern. Dann altdeutsche Volkslieder. Eine Gesamtaufnahme des Idomeneo unter Karl Böhm in Dresden. Um nur einige Produktionen herauszugreifen.

Inwieweit müssen Sie als Sänger auf normales menschliches Leben verzichten?

Ich versuche, so normal wie möglich zu leben, da ich nicht Sklave dieses Stimmapparates sein will. Das bezieht sich nicht nur auf die Freizeit, sondern auch auf die ganze Einstellung. Ich möchte also zum Beispiel nicht jeden Tag mit einem dicken Schal herumlaufen, möchte unter keinen Umständen auf ein schönes kaltes Bier oder auf einen Fußballspiel-Besuch verzichten, nur weil ich Sänger bin, der sich nicht unter Menschen wagen sollte, um sich nicht etwas zu holen.

Aber Sie beschäftigen sich praktisch immer mit Musik?

Weitgehend schon - wenn ich lese, dann zumeist Literatur, die zur Musik gehört. Ich kann mir auch meine Freizeit nicht ohne Musik vorstellen. Ich muß Partituren lesen - das aber nicht als Zwang, sondern weil es mir ein Bedürfnis ist. So ist auch das Dirigieren nicht anderes als eine Variante des Musikmachens; wie ich auch mit der Stimme letztlich nur musizieren will. Übrigens habe ich schon vor vielen Jahren, als es die Mode des Dirigierens von Instrumentalisten oder Sängern noch nicht gab, mit dieser einst ja auch richtig erlernten Tätigkeit angefangen. Das ist also kein Fimmel von mir, sondern entspricht meiner Neigung, mit Chor und mit Orchester zu arbeiten, meine Vorstellung von der Musik Bachs und Händels, die ich sehr viel gesungen habe, nun als Dirigent zu realisieren.



back / zurück