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Pizzicato 01/04

Peter Schreier: "Jede Bach-Aufführung ist für mich ein Erlebnis"
Erfolgreiche Konzerte mit dem Philharmonischen Orchester Luxemburg

(Luxemburg) Im vergangenen Dezember hatte das Philharmonische Orchester Luxemburg Peter Schreier eingeladen, die drei ersten Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach zu dirigieren und darin auch die Partie des Evangelisten zu singen. Wir erlebten ein zutiefst beglückendes Konzert.

Schreier ließ die Musik in plausibel gewählten Tempi, in kontrastreicher Akzentuierung und mit dem Glanz der prachtvoll aufspielenden Philharmoniker sehr lebendig aufblühen. Mögen die Parteigänger der historisch orientierten Aufführungen vielleicht auch die Köpfe geschüttelt haben, so finde ich, dass auch ein symphonischer Bach in unseren Tagen seine Berechtigung hat, zumal wenn die Dramatik der Musik so heraus gearbeitet wird, wie Schreier das tat. Wie dieser dabei seine beiden Positionen, als Dirigent und Sänger, zusammenspannte, war darüber hinaus eine Leistung, die man nicht genug würdigen kann. Er sang auswendig, den Text intensiv auslotend, sehr expressiv und mit einer Stimme, die seinem Alter beharrlich trotzt: sie ist biegsam und farbenreich geblieben und von faszinierender Kraft und Reinheit. Peter Schreier ist als Evangelist mehr denn je eine künstlerische Autorität.

Deutlich machte dieser Abend aber auch, dass für das das Philharmonische Orchester die Rückkehr in die Barockmusik durchaus geboten war. Diese Epoche wurde zu lange den Spezialisten überlassen. Die Spielfreude und die Kompetenz der Musiker des Philharmonischen Orchesters Luxemburg zeigten, dass auch ein solches Orchester in diesem Repertoire etwas zu sagen hat.
Mit dem Favorite- und Capellchor Leipzig stand ein Kammerchor zur Verfügung, der kaum Wünsche offen ließen. Das Solistenquartett Barbara Christina Steude, Sopran, Anne Kathrin Laabs, Mezzosopran [, Albrecht Sachs, Tenor] und Jochen Kupfer, Bariton, harmonierte in denkbar korrekter Weise.

Mit dem Sänger und Dirigenten Peter Schreier konnten wir während der Probetage das folgende Gespräch führen.

Herr Schreier, gestern habe ich, um ein Interview mit José van Dam vorzubereiten, nach Fotos gesucht und dabei auch sehr viele Bilder gefunden, wo auch Sie drauf waren. War das eigentlich eine besonders schöne Zeit, mit den vielen Konzerten und Schallplattenaufnahmen unter großen Dirigenten wie Karajan?
Es gehörte in meiner ganzen Laufbahn zu den Höhepunkten, unter von Karajan zu singen. Aber jene Zeit wurde auch durch die kollegiale Zusammenarbeit eben mit Künstlern wie José van Dam geprägt. Das war ein sehr natürliches und konstruktives Zusammenarbeiten ohne Konkurrenzdenken, und José van Dam war für mich auch in der menschlicher Art einer der größten Künstler.

Sie haben Anfang der Sechzigerjahre debütiert und singen immer noch. Eigentlich sind Sie ein Musterbeispiel für einen Sänger, der seine Stimme stets so eingesetzt und so geschont hat, seine Stimme so versorgt hat, dass man halt lange damit arbeiten kann.
Das Wort geschont würde ich vielleicht bestreiten, weil das könnte so aussehen, als hätte ich mein Leben lang gespart, aber so ist es nicht: Ich habe versucht, meine Stimme immer im richtigen Fach zu gebrauchen, also nicht über meine Verhältnisse zu gehen. Natürlich könnten Sie jetzt fragen, warum ich denn den Max im 'Freischütz' gesungen habe. Ich antworte: den habe ich nur für eine Schallplatteneinspielung gesungen, auf besonderen Wunsch von Carlos Kleiber. Er wollte einen ganz lyrischen Max haben und nur deswegen habe ich es gemacht, nie auf der Bühne. Dann kam die Zeit mit Karajan, der mich auch zu einem Ausflug in ein anderes Fach bewogen hat, das war der Loge im 'Rheingold'. Und hier muss ich wirklich sagen, dass Karajan auch den richtigen Griff gehabt hat, denn er sagte mir, der Loge sei genau so eine Partie wie der Evangelist in der Matthäus-Passion, also eine Charakterstimme! Und er sagte: Wenn ich unten stehe, werde ich das Orchester so behandeln, dass Sie keine Mühe haben, darüber hinweg zu kommen. Und so war es auch. Ich hatte, wenn ich so sagen darf, meinen größten Erfolg, zumindest war die Publikumsresonanz anging, mit diesem Loge in Salzburg bei den Osterfestspielen. Und eben das hatte ich zum großen Teil Karajan zu verdanken, der es verstand, diese Partie des Loge rezitativisch anzulegen, dass also der Inhalt, die Sprache und die Deklamation zum Tragen kamen.

Man sagt ja oft heute, dass es nicht mehr so viele Dirigenten gibt, die einen Sänger wirklich gut begleiten können, die mit einem Sänger atmen können…
Das möchte ich so generell nicht sagen. Viele der jungen Dirigenten kenne ich nicht, aber ich glaube, es kommt immer darauf an, wie ein Sänger reagiert. Zudem ist es ja heute nicht mehr so, dass ein Dirigent ein absoluter Diktator ist, sondern man arbeitet etwas gemeinsam aus. Also wenn ich an Metzmacher denke, oder an Welser-Möst, das sind doch Dirigenten, die sind keine Pultvirtuosen sind, die nur an sich denken, sondern die lassen sich auch von anderen animieren oder zumindest anregen, und dann glaube ich schon, dass es noch welche gibt, die auf den Sänger eingehen.

Nun, ich wollte vorhin nicht sagen, Sie hätten ihre Stimme geschont. Sie haben tatsächlich unheimlich viel gesungen, und das ist, wenn man Ihre Karriere mal etwas näher betrachtet, schon etwas Besonderes.
Ich habe wahnsinnig viel gesungen, eigentlich zuviel, weil mein Privatleben dabei schon etwas zu kurz gekommen ist. Meine Söhne, die ja inzwischen schon über 40 sind, alle beide, machen mir das schon mal zum Vorwurf, dass sie in ihrer Kindheit nichts, aber auch gar nichts von mir hatten. Und wenn ich dann sage, sie seien dafür aber jedes Jahr mit in Salzburg gewesen im Sommer, halten sie mir vor, ich sei immer im Stress gewesen und hätte auch dort keine Zeit für sie gehabt. Und eigentlich haben die beiden ja recht, denn wenn so über 25 Jahre jedes Jahr in Salzburg ist im Sommer, hat man auch eine Verantwortung, einen Ruf zu verteidigen, man muss immer fit sein, ansonsten kann man dieses Niveau nicht halten.

Wo lagen denn Ihre persönlichen Präferenzen?
Ach wissen Sie, ich würde sagen bei den großen Mozart-Opern, bei den Liederabenden und bei Bachs Passionen. Diese drei Blöcke könnte man als meine Präferenzen bezeichnen, alles andere ist gewissermaßen Beiwerk gewesen.

Und das waren auch Ihre Stärken?
Sicher! Ich meine, von meiner ganzen Veranlagung her, von meinem Timbre, von meiner Stimme war ich eigentlich prädestiniert für Mozart und Bach.

Vorgeworfen wurde Ihnen aber einmal von Kesting, nicht genug Farbe in Ihre Stimme zu bringen, und Schumann hat mal gesagt, Sie seien manchmal so ein edler Vikar, der nicht fähig sei, aus sich heraus zu gehen.
Ich gebe ich zu, dass ich gerade in meinen jüngeren Jahren eher ein edler Sänger war und in den späteren Jahren viel mehr der Charaktertenor wurde. Über Stimmen kann man ohnehin streiten, das ist Geschmackssache! Die einen mögen diese Stimme, die anderen eben jene, damit muss man leben.

Was Ihre Aufnahmen betrifft, liegen meine persönlichen Präferenzen bei der 'Schönen Müllerin' und beim David in den 'Meistersingern' mit Karajan, den Sie meines Erachtens nach sehr, sehr gut gesungen haben, es ist für mich die beste Aufnahme, die es davon gibt…
Welche 'Schöne Müllerin' denn?
Die letzte, mit Andras Schiff!
Ja, gebe ich zu, das könnte sein, wie überhaupt meine letzten Aufnahmen und besonders die mit Andras Schiff vielleicht die reifsten sind, auch die, wo ich Mut hatte, weg von dem schönen Gesang zu gehen und mehr zu charakterisieren.

Sie sind ja damals auch als Erbe von Fritz Wunderlich angesehen worden. War dies eine Last oder war es eher förderlich?
Nein, das war eigentlich Unsinn! Es war eben so, dass der Fritz Wunderlich starb und ich war plötzlich da und in verschiedenen Dingen konnte ich einspringen. Aber ich war ja ein ganz anderer Stimmtyp als Wunderlich. Ich war viel metallischer und er konnte einen Alfred in der 'Traviata' singen, was für mich überhaupt nicht in Frage kam. Dieser Vergleich kam leider in den Medien auf, war aber, wie gesagt, Unsinn!

Heute wird ja immer wieder geklagt, dass es zu wenige Tenöre gibt.
Das stimmt nicht, es gibt eine Menge guter Tenöre, gerade in meinem Fach. Ich könnte Ihnen auf Anhieb fünf oder sechs nennen. Die Palette ist sehr, sehr differenziert, aber es gibt immer wieder gute Tenöre.

Von vielen hört man einige Jahre lang etwas, und dann verschwinden sie recht schnell von der Bildfläche.
In dem Punkt kann ich ihnen Recht geben, denn leider lassen sich manche von den jungen Leuten zu schnell verführen, in ein Fach höher zu gehen und schaden der Stimme. Und so was macht man nicht sehr lange mit.

Wenn wir von jungen Leuten sprechen, kommt natürlich, wenn man mit einem älteren Sänger spricht, auch die Frage auf, ob man als Sänger die Erfahrung, die man hat, weiter gibt, ob man unterrichtet. Ist das etwas, was Sie tun oder gerne tun möchten?
Da treffen Sie in ein Wespennest! Ich habe keine Geduld und deswegen bin ich für den Lehrberuf nicht sehr geeignet. Auf der anderen Seite hab ich auch zuviel Verantwortungsbewusstsein, um heute einem jungen Sänger eine gewisse erfolgreiche Karriere in Aussicht zu stellen. Das ist für mich schon eine Frage der Verantwortung! Hin und wieder gebe ich Kurse, aber da habe ich keine so sehr guten Erfahrungen gemacht, weil meistens die Leistung oder der technische Stand der Sänger nicht ausreicht, um wirklich an die Interpretation der Werke zu gehen. Denn die schon etablierten Sänger, die technisch guten, die was lernen könnten, die kommen nicht, weil sie schon etwas zu verteidigen haben und eine gewisse Scheu davor, haben sich noch kritisieren zu lassen.

Wenn man heute von Mozart oder Bach spricht, dann sagt man auch gleich historisierende Aufführungen. Sie sind freilich nicht unbedingt der, der sagt, man müsse authentisch sein.
Das Wort authentisch ist mir wie ein Dorn im Auge, denn Authentizität in dem Sinne gibt es für Bachs Musik nicht. Wir wissen alle nicht, wie bei Bach musiziert wurde, und deswegen lehne ich dieses Wort ab. Mit historischem Gedankengut, mit Recherchen auf historischer Ebene kann man sicherlich der Musizierweise aus Bachs Zeit nahe kommen, aber das allein bringt ja nicht alles. Grundsätzlich einmal: Wollen sie heute den Beethoven oder den Brahms lieber mit dem Hammerklavier oder mit dem Steinway hören?

Ich? Lieber mit dem Steinway!
Ja, ich auch, und ich meine: es hat sich alles entwickelt, vom Gaslicht zur Glühbirne, und wieso sollte das bei den Instrumenten nicht so sein. Wenn sich die Instrumente weiter entwickelt haben, dann lasst uns doch daraus Nutzen ziehen. Ich liebe die neuen Oboen ja viel mehr als die alten, die schwierig zu spielen sind, weil sie technisch sehr schwer und unzuverlässig sind. Moderne Oboen kommen im Klang meinen heutigen Ideal sehr viel näher. Bei den Streichern will ich gerne die Art der Artikulation aus der historischen Praxis übernehmen, aber nicht den Klang und schon gar nicht die Art, wie so etwas heute interpretiert wird, ohne Vibrato, mit einem bauchigen Spiel. Wer sagt uns, dass das alles so war? Meines Erachtens ist das nur eine Mode, eine absolute Mode. Es kommt natürlich auch noch dazu, dass der Schallplattenmarkt gesättigt war mit Aufnahmen von Leuten wie Karl Richter und vielen anderen. Es musste etwas Anderes kommen, und da kamen zum Glück die Leute mit den historischen Einfällen. Das hat sich aufgeschaukelt und wird gerne als die einzige Art angesehen, wie man heute Bach oder die Zeitgenossen interpretieren darf. Aber das ist nicht meine Welt! Ich bin der Meinung, dass in erster Linie Musik gemacht werden soll, aus dem Menschen heraus, 'con core', mit Engagement, mit dem sichtbaren Einsatz. Dann erst ist für mich die Spannung für ein Musikerlebnis gegeben und nicht etwa durch irgendwelche technischen Einflüsse.

Sie haben ja vor einer gewissen Zeit begonnen, Bach nicht nur zu singen, sondern auch zu dirigieren. Ist es eigentlich schwierig, wenn man beide Sachen gleichzeitig machen muss?
Das eine profitiert vom anderen. Natürlich ist meine ganze Interpretation auf die sängerische Ausstrahlung hin konzipiert, aber der sängerische Körper, der Sänger Peter Schreier, hat dadurch, dass er die Gesamtverantwortung übernimmt, eine viel größere Körperspannung und kann auf diese Weise einen Evangelisten gestalten, der aus dem Werk heraus entsteht, aus den dynamischen Finessen, aus dem Tempi, aus dem Zeitmaß, aus der Attacca-Musizierweise, und das allein verleiht für meine Begriffe - und die Kritiker sagen es mir ja auch immer wieder - dem Ganzen einen viel größeren Zusammenhalt. Der Evangelist hält als Person das ganze Stück zusammen. Er ist so etwas wie der Spiritus Rector und eigentlich der Dirigent. So gesehen ist die Matthäus-Passion oder das Weihnachtsoratorium kein Nummernmusizieren, sondern die Musik läuft ab wie eine spannende Oper.

Was bedeutet Bach Ihnen generell?
Gott! In einem Wort: Gott! In den vierzig Jahren meines Beruflebens ist dies so gewachsen! Jede Bach-Aufführung ist für mich ein Erlebnis. Er wird nie zur Routine. Bei Bach gibt es für mich immer wieder etwas Neues zu entdecken, er fordert immer wieder den ganzen Menschen aus mir heraus.

Sie haben viel gesungen, ungemein viele Sachen gemacht. Gibt es irgendetwas, was Sie noch nicht gemacht haben und gerne machen würden?
Das gibt es nicht! Ich habe alle Dinge, die mir liegen und die ich gerne gemacht habe, gemacht und ich bin auch heute überhaupt nicht mehr böse oder traurig, dass ich vor drei Jahren die Oper 'ad acta' gelegt habe. Das ist für mich kein Problem, denn mit fast 65 gibt es ja keine Partien - außer Palestrina vielleicht -, die man noch singen kann und insofern war das Ausscheiden aus der Oper für mich kein Problem, dies umso mehr weil ich ja noch weiter Musik mache und mir die Musik in keiner Weise fehlt! R.F.




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