back / zurück



25.06.2004 (aufgenommen: Februar 2004)


Peter Schreier im Gespräch mit Walter Flemmer

Flemmer: Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen zum Alpha-Forum. 6. Februar 2004 im Münchner Prinzregententheater: Mit dem "Leiermann" hat Peter Schreier gerade die "Winterreise" beendet. Der Beifall will nicht enden und er kommt noch einmal auf die Bühne. Ich weiß, dass er eigentlich keine Zugaben gibt, und dann gibt er doch eine Zugabe und sagt dazu, die einzige Möglichkeit einer Zugabe sei "Wanderers Nachtlied” . Und dann erklingt dieses unglaubliche Lied, basierend auf einem ganz einfachen Gedicht Goethes. Es ist ganz still in diesem Theater. Ich begrüße herzlich den dreifachen Kammersänger, Herrn Professor Peter Schreier.
Herr Schreier, alles beginnt in Sachsen, alles beginnt mit dem Kind, das mit der Musik im Elternhaus konfrontiert wird. Sie sind am 29. Juli 1935 in Meißen geboren und eigentlich immer in dieser Umgebung geblieben, auch darüber werden wir reden müssen. Von Meißen kamen Sie dann nach Gauernitz, in einen kleinen Ort, wo Ihr Vater Kantor, also Musiklehrer gewesen ist. Diese Kantoren im Sächsischen sind ja geradezu berühmt, wie man sagen kann. Wie war denn das in Ihrem Elternhaus, war da ständig Musik in der Wohnung über den Schulsälen im Schulgebäude? Wurde denn da der kleine Peter mit der Musik schon sehr konfrontiert?

Schreier: Ja, ganz intensiv sogar. Natürlich, bei einem Musiklehrer aufzuwachsen und erzogen zu werden, setzt voraus, dass man zwangsläufig mit Musik gefüttert wird.

Er soll ja auch ein sehr strenger Lehrer gewesen sein.
Das war er, sogar bis in mein hohes Jugendalter hinein.
Als Korrepetitor.
Er hatte natürlich den Ehrgeiz, den viele Kantoren in Sachsen haben, ihre Kinder musikalisch weiterzubringen, womöglich in einen der Knabenchöre zu bringen, in den Dresdener Kreuzchor oder in den Leipziger Thomanerchor. Bei mir war es so, dass er seinen ganzen Ehrgeiz darauf gerichtet hat, mich in den Kreuzchor zu bringen. Nun war natürlich die Zeit damals nicht gerade sehr günstig. Mein Vater wurde schon 1939 in den Krieg eingezogen: erst einmal zum Militär und dann ging es ab in den Krieg. Die ganze Verantwortung lag dann auf den Schultern meiner Mutter, die sich wirklich ganz tapfer geschlagen hat und die dann in den wirklich schlechten Zeiten aus ihren beiden Jungs – ich habe ja noch einen Bruder – tatsächlich etwas gemacht hat.

1943 waren Sie dann zum ersten Mal beim Kreuzchor, in dieser so genannte Vorbereitungsklasse. Dann kam aber dieses schreckliche Inferno: Dresden wurde im Grunde genommen komplett zerstört, nichts war mehr da. Viele Kreuzianer sind gestorben bei diesem Angriff. Und erst 1945 gab es dann wieder eine Chance, durch diesen unglaublichen Wiederaufbau in einer zerstörten Stadt erneut Musik zu machen. Das muss man sich erst einmal vorstellen.
Ja, das kann man sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen. Man lief wirklich wie in einem Film durch lauter Ruinen und zwischen eingefallenen Häusern herum: Es fuhr keine Straßenbahn mehr und es gab auch sonst kein Verkehrsmittel mehr. Wir waren etwas am Rand von Dresden untergebracht: in den Kellerräumen einer noch stehen gebliebenen Schule. Das war in Dresden-Plauen. Dort begann dann der Kreuzchor nach dem Inferno von Neuem.

Damals hat sich ja Ihre Mutter sozusagen auch als Versorgerin der anderen Schüler betätigt.
Genau so war es. Wir kamen ja aus dem Dorf, aus Gauernitz, und dort gab es doch noch gewisse Quellen, die es in der Stadt schon überhaupt nicht mehr gegeben hat. Ich habe das alles sehr schnell aufgenommen und bin dann schon im Juli 1945 in das Interimsinternat des Kreuzchores gekommen. Einen Vorteil haben solche ernsten und schweren Zeiten trotz alledem: Man konzentriert sich wirklich auf eine Sache. Die Schule war noch nicht existent, denn sie wurde erst gegen Ende 1945 wieder aufgebaut: Wir hatten daher den ganzen Tag über Zeit, für den Chor da zu sein. Professor Mauersberger, der damals den Chor leitete, hat uns alle mit herangezogen dafür. Wir mussten Noten schreiben, denn das große Notenarchiv war ja bei diesem Angriff ebenfalls vernichtet worden.

Was hat denn damals diesen Kreuzchor ausgezeichnet? Was zeichnet ihn bis heute gegenüber anderen Knabenchören aus, von denen wir ja eine ganze Reihe haben, wenn wir nur einmal an die "Wiener Sängerknaben", an die "Regensburger Domspatzen", an den "Tölzer Knabenchor" denken?
Ich glaube, das ist von Zeit zu Zeit, von Generation zu Generation ein klein wenig anders.

Was war denn das Besondere bei Mauersberger?

Zu meiner Zeit war es so, dass uns Mauersberger eigentlich singen ließ, wie uns der Schnabel gewachsen war. Das heißt, es wurde nicht durch einen Stimmbildner eingegriffen, sondern wer eine schöne Stimme hatte, der sollte drauflos singen – natürlich im Rahmen der Literatur, die wir gesungen haben. Die einfache Formel für so etwas lautet für mich eben, dass man die Spezifik des Knabenklanges nicht verändert oder nicht verwässert. Jedes Eingreifen verändert ja etwas: Ich erlebe das ab und zu z. B. bei den "Wiener Sängerknaben", die manchmal schon gar nicht mehr wie ein Knabenchor singen und klingen, sondern eher wie ein Mädchenchor. Ich glaube, das war eben die Spezifik des Kreuzchorklanges zu meiner Zeit. Sie hat sich mit gewissen Veränderungen auch bis heute erhalten.

Liegt das nicht auch an einem besonderen Programm? Das war ja immer gefüllt mit Schütz, mit Bach. Würden Sie diesen Chor mit dem Thomanerchor vergleichen?
Die Thomaner haben es natürlich wesentlich leichter mit ihrem Bach, weil der Bach natürlich ein Leitbild ist in unserer Kultur. Sie haben mit ihm einen Komponisten, mit dem sie hausieren gehen können.
Den haben sie sozusagen geerbt.
Bei den Kreuzianern ist das im Prinzip der Heinrich Schütz, aber der ist weit weg von der Popularität weit von wie der Bach. Unsere Aufgabe war es daher auch, Schütz wirklich auch publik und einem breiten Publikum zugänglich und schmackhaft zu machen. Ich glaube, da hat es der Kreuzchor ziemlich schwer. Aber diese Kompositionsweise und die Art der Musik von Schütz hat den Klang des Kreuzchors mit geprägt. Mauersberger war ja sehr intensiv in der Pflege Heinrich Schütz': Er hat von Heinrich Schütz sehr vieles, das bis dahin noch gar nicht bekannt war, dem Publikum sehr oft und sehr eindringlich schmackhaft gemacht. Aber ich glaube auch, dass die Art und Weise, wie Mauersberger mit dem Chor gearbeitet hat, ganz richtungsweisend gewesen ist für diesen gabz spezifischen Kreuzchorklang: ein klein wenig metallisch, manchmal vielleicht sogar etwas kurzatmig, aber von ungeheurer Sinnlichkeit. Ich höre mir heute noch mit großem Vergnügen Aufnahmen an aus dieser Zeit.



Er hat Sie dann ja auch zum Altsolisten gemacht und ein bisschen später auch zum Stimmführer. Das war dann doch auch wiederum eine Hinführung zu Bach?

Ja, auch, richtig. Aber zunächst muss ich doch noch etwas einflechten. Diese Entwicklung geschah nicht so ganz auf natürlichem Wege, sondern es war einfach so gewesen: Er hatte mich als Sopran in den Chor übernommen. Dies war aber ganz offensichtlich nicht meine natürliche Stimmlage. Ich bekam dann auch prompt Stimmbandknötchen und musste zu einem Stimmtherapeuten. Von da an bekam ich dann diese Altstimme. Er hat mit mir Übungen gemacht, die diese Stimmbandknötchen quasi aufgelöst haben. Von da an bekam ich also diese Altstimme, mit der Mauersberger dann auch solistisch zu arbeiten begann. Er hat spezielle Kompositionen für mich bearbeitet, die sowohl vom Umfang wie auch von der Klangfarbe her genau auf meine Stimme passten. Er hat damals – und das war damals noch überhaupt nicht üblich, heute ist das ja gang und gäbe – uns Knaben auch die Soloarien in den Bach'schen Passionen singen lassen. So habe ich auch das große Glück, dass heute noch einige Aufnahmen von mir vorhanden ist. Da gibt es z. B. eine Aufnahme mit "Es ist vollbracht" aus der Johannespassion oder auch "Agnus Dei" aus der h-Moll-Messe. Das sind Arien, die schon von einer studierten Sängerin sehr, sehr viel verlangen: Man kann fast nicht glauben, dass das wirklich eine Knabenstimme bewältigen kann.

War es nicht auch Mauersberger, der gesagt hat, "Werden Sie Sänger"?
Ja, das war dann in der weiteren Folge tatsächlich so. Als ich so weit kam, dass ich mich entscheiden musste, welchen Beruf ich erlernen möchte, stand zur Debatte entweder zu dirigieren oder zu singen. Er hat damals zu mir gesagt: "Ihre Stärke liegt im Singen. Werden Sie Sänger!" Das war natürlich ein ganz richtiger Hinweise für mich. Ich habe dann übrigens das Dirigieren nebenbei doch auch noch studiert, wovon ich ja bis heute zehren kann.

Wir müssen unbedingt über Dresden reden, wir müssen unbedingt über diese regelrechte "Provinznudel" sprechen, als die Sie sich selbst einmal bezeichnet haben. Sie sind ein weltberühmter Sänger geworden, Sie kennen alle Weltstädte von New York bis Buenos Aires, Sie kennen alle großen Opernhäuser dieser Welt, dennoch haben Sie immer gesagt, Ihre Heimat sei Dresden. Sie sind auch nie weggegangen aus Dresden, denn Sie haben Ihren Wohnsitz nie gewechselt. Sie sagten, Sie seien einfach verwurzelt in dieser Landschaft. Ihr Haus haben Sie sich ja am Rande Dresdens im Grunde genommen im Übergang zur Landschaft gebaut. Was bedeutet denn für Sie diese Heimat? Ich habe auch gelesen, dass Sie einmal gesagt haben: "Ach, jedes Mal, wenn ich zurückkomme, dann merke ich, hier bin ich zu Hause und nirgendwo sonst."
Ich glaube, diese Wurzeln liegen in meiner Jugend, in der Knabenchorzeit begründet. Der Kreuzchor war für mich wirklich so etwas wie ein Zuhause. Man muss sich das mal vorstellen: In dieser Zeit von 1945 bis 1949 war mein Vater nicht da, denn er war damals noch in russischer Gefangenschaft. Meine Mutter hat gewissermaßen die Erziehung alleine bewältigen müssen. Ich war im Internat, im Alumnat des Dresdner Kreuzchores, und bin dort ganz entscheidend beeinflusst worden, was Disziplin anbelangt, was das Sich-Unterordnen anbelangt, was das Zusammenleben anbelangt usw. All diese Komponenten habe ich dort als eine Selbstverständlichkeit aufgenommen, sodass ich manchmal gar keine Lust hatte, am Wochenende nach Hause zu fahren – so verwurzelt war ich in die Kreuzchorarbeit. Abgesehen davon konnte man im Internat auch herrlich Fußball spielen auf dem Hof. Das waren alles Dinge, die mich als Junge sehr gehalten haben dort. Nach dem Kreuzchor habe ich dann auch gleich anschließend ebenfalls in Dresden studiert. Nach dem Studium habe ich an der Dresdner Staatsoper angefangen usw. Ich glaube, alle diese Punkte haben dazu beigetragen, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, woanders zu leben. Wenn man als junger Mensch seine Heimat verlässt, dann ist das meiner Meinung nach relativ leicht, so mit 20, 25 Jahren. Ich sehe das heute ja an meinen jungen Kollegen, die ebenfalls im Kreuzchor gewesen sind: Sie studieren heute in London oder in New York. Sie empfinden das als selbstverständlich und haben keine Probleme damit, von zu Hause wegzugehen.

Denken Sie auch an die Dirigenten oder Ihre großen Kollegen, die heute hier und morgen dort ihre "Zelte" aufschlagen. Sie leben heute in New York und morgen in Paris und übermorgen schon wieder in Wien usw. Dieser Versuchung sind Sie nie unterlegen?
Nein, nie.
Sie sind also im Gegensatz dazu sehr verwurzelt in Ihrer Heimat. Sie sind nie weggegangen von dort, obwohl das ja nahe gelegen hätte.
Das stimmt. Ich hatte natürlich genügend Angebote wegzugehen: Selbst in der Zeit der DDR noch wurde mir häufig angeboten, woanders hinzuziehen. Nein, ich brauchte einfach meine Heimat: Ich brauche sie, um mein seelisches Gleichgewicht zu behalten.

Das hat ja vielleicht auch etwas mit der Musik zu tun, über die wir gleich noch sprechen werden. Denn in dieser Musik ist ja auch viel von Heimat die Rede: Denken wir nur einmal an die Lieder von Schubert, Schumann usw. Sie haben also an der Musikhochschule in Dresden studiert: Dort wurden Sie zum Sänger ausgebildet und dort haben Sie auch das Dirigieren studiert. Das heißt, Sie hatten eigentlich schon von Anfang an zwei Standbeine, wenngleich Sie dann doch der Sängerruhm sehr schnell überwältigt hat, wenn ich das so sagen darf.
Ja, ja, schon. Aber schuld daran, dass ich an der Hochschule auch das Dirigieren mit belegt habe, war in erster Linie die Tatsache, dass mich das Gesangsstudium nicht ausgefüllt hat. Es ist ja leider heute noch so: Es wird an einer Musikhochschule von einem Sänger musikalisch viel weniger verlangt als von einem Instrumentalisten oder von einem Dirigenten. Das hat eben auch mich damals nicht ausgefüllt und aus diesem Grund konnte ich das Dirigieren quasi nebenbei noch ein wenig mitmachen. Später dachte ich dann schon auch manchmal: Es kann mir ja auch mal etwas zustoßen mit der Stimme, aber wenn ich dirigieren kann, dann kann ich im musikalischen Beruf bleiben.

Sie machten dann eine großartige Sängerkarriere und auch eine Karriere als Dirigent. Letztlich aber waren und sind Sie der große, große Bachinterpret, der große Mozartsänger und der Sänger, der einige Erben angetreten hat. Der Name "Erb" spielt ja hier auch eine Rolle. Und Sie sind natürlich auch der große Liedersänger. Reden wir doch zunächst einmal über Johann Sebastian Bach. Als Evangelist haben Sie damit Weltruhm eingeheimst. Ich glaube, Sie haben über 400 Mal die Matthäuspassion gesungen. Das prägt. Man kann sich heute kaum einen anderen Evangelisten vorstellen. Hinzu kamen natürlich noch die Johannespassion, die Oratorien, die Kantaten, die weltlichen Kantaten, die Sie ebenfalls aufgenommen haben. Was zeichnet denn diesen Johann Sebastian Bach aus? Über ihn haben ja viele gesagt, er sei eigentlich der Gipfel der Weltmusik. Wenn man ganz genau hinsieht, dann gäbe es neben ihm niemanden mehr. Stimmt das?
Ja, das sagen ja auch die größten Komponisten in der Zeit nach Bach. Selbst Beethoven hat Bach hoch verehrt. Nun, dass ich so viel Bach gesungen habe, hatte natürlich zunächst einmal mit meinen stimmlichen Voraussetzungen zu tun. Das war mit ein Grund dafür, dass ich mich sehr mit Bach beschäftigt habe. Aber es lag auch an den Lehrern, die ich gehabt hatte: Im Kreuzchor war das zunächst Mauersberger gewesen, später war das der große Bachkenner Karl Richter, mit dem ich sehr viel gemacht habe und der auch meine Interpretationen sehr geprägt hat.

Bei Karajan war das weniger der Fall, denn mit ihm gab es doch ein paar Probleme.
Nun gut, der Karajan hat den Bach etwas anders gesehen als wir, als wir Protestanten. Ich glaube jedenfalls, dass meine Affinität zu Bach und die Liebe zur Evangelistenpartie etwas mit meiner Jugendzeit im Kreuzchor zu tun hat: Dort ist das entstanden. Als ich damals im Kreuzchor im Stimmbruch war und ich ja nicht wusste, ob ich nach dem Stimmbruch eine brauchbare Stimme bekommen werde, habe ich mir immer vorgestellt: "Du musst etwas werden, bei dem du den Evangelisten singen kannst!" Man soll ja in dieser Zeit nicht singen, aber ich habe doch immer so ein klein wenig gesummt und die Stimme mit kleinen Übungen ein bisschen künstlich hochgetrieben. Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas genutzt hat, aber am Ende bin ich dann eben doch als Tenor herausgekommen. Es war mir jedenfalls von Anfang an klar, dass einem die Evangelistenpartie unglaublich viele Möglichkeiten gibt hinsichtlich der Gestaltung, der Personifizierung, der Identifikation. Ich bin ja auch oftmals der Frage auf den Grund gegangen, warum z. B. zu Erbs Zeiten der Evangelist relativ beteiligungslos, oder sagen wir besser, sachlich informierend gewesen ist. Auf der anderen Seite schreibt nämlich Bach in seinen Rezitativen so anspruchsvolle und harmonische Wendungen und Intervallsprünge, die auf den ersten Blick so eine Haltung doch gar nicht zulassen: Da müssen stattdessen der Körper und die Emotion des Sängers mit dabei sein. Deswegen glaube ich, dass diese Evangelistenpartie auch eine ganz große Leidenschaft zeigen soll.

Sie haben diese Partie ja gestaltet wie kaum ein anderer: gerade nicht als den ruhigen Bericht des Evangelisten. Sie haben, wie ich glaube, auch entdeckt, was da an Tiefe drinsteckt. Da gibt es z. B. ganz atemlose Pausen.
Ja, zum einen das. Aber es gibt da z. B. auch diese Anschlüsse an die Turbaechöre: Die sind von Bach so komponiert, dass man die Diktion des anschließenden Chores schon vorgibt. Man braucht also eigentlich gar nicht mehr dirigieren an dieser Stelle. Aus diesem Grund glaube ich, dass der Evangelist ein Spiritus Rector ist, der, wenn ich die Matthäuspassion als Beispiel nehmen darf, durch das ganze Stück hindurch die Sache in der Hand hat. Er kann die Dynamik beeinflussen, er kann die Rhetorik beeinflussen, er kann das Tempo beeinflussen usw. Alle diese Komponenten zusammengenommen bewirken dann – zumindest ist das für mich so, denn ich kann ja nur hoffen, dass auch der Außenstehende das so empfindet – einen großen Faden, einen großen Bogen. Es ist eben nicht so, dass da nach einer großen Arie meinetwegen erst einmal abgesetzt wird, der Dirigent sich mit dem Taschentuch den Schweiß abwischt und dann sagt, dass es jetzt weitergehen könne. Nein, wenn ich so etwas gesehen habe, dann habe ich mir immer gesagt: "Nein, das kann es nicht sein! Das muss doch mit einem anderen inneren Zusammenhalt musiziert werden!" Und wir wollen uns ja auch nichts vormachen: Bach hatte aufgrund seiner kirchlichen Stellung nie die Möglichkeit eine Oper zu schreiben. Aber ich glaube schon, dass die Passionen – und hier besonders die Johannespassion, aber auch die Matthäuspassion – für Bach einen Ersatz für Oper darstellten.

Ersatz oder nicht Ersatz, diese Werke stehen ja so eigenständig da in der gesamten Musikgeschichte, dass man ihnen kaum etwas an die Seite stellen kann – auch andere Passionen nicht.
Ja, absolut.



Das Besondere an Ihrer Gestaltung – nicht nur bei Bach – ist ja Ihre großartige Artikulation, Ihre phantastische Verständlichkeit. Ist denn das Wort hierbei wirklich so wichtig? War das von Anfang an mit Ihr Ziel?

Ja, eindeutig. Für mich ist das ein Credo. Wenn Musik mit Text unterlegt ist, dann kann diese Musik nur wirken und gültig sein, wenn man auch den Text versteht. Ich habe in den letzten Tagen und Wochen über einen klassischen Sender im Fernsehen verschiedene Opern gehört: Tja, die Musik von Richard Strauss ist wirklich überwältigend, aber was nützt es mir, wenn ich kein Wort verstehe oder wenn ich nur ganz, ganz wenig verstehe? Gut, man kennt ja inzwischen die Werke und deren Inhalt, aber bei Bach oder auch im Liedgesang ist das für mich unvorstellbar. Es ist ganz, ganz wichtig, dass man mit dem Wort die Musik an manchen Stellen sogar noch überhöht, dass man die Klangsprache des Wortes benutzt, um den Hörer zu interessieren. Es nützt doch nichts, wenn nur schöne Töne abgeliefert werden. Ich meine, es ist selbstverständlich eine Voraussetzung schön zu singen. Aber das geht eben nicht immer, denn es gibt auch Situationen, in denen man schon mal zupacken muss, in denen man im Interesse der Gestaltung manchmal nicht so schöne Töne abliefert.

Walter Flemmer, 02/2004 Peter Schreier, 02/2004

Wie geht es einem denn als Evangelist? Man spricht da ja diese "Heiligen Texte": Spielt denn hier eine gewisse seelische Nähe auch eine Rolle?
Sicherlich. Das werde ich ja auch oft gefragt: "Sind Sie ein gläubiger Mensch?" Ich möchte auf diese Frage immer gerne antworten: "Ja, ich glaube an Johann Sebastian Bach!" Aber das habe nicht ich erst erfunden, dieses Wort, das haben schon viele vor mir gesagt.
Aber eine gute Antwort ist es dennoch.
Ich kenne natürlich meine biblischen Texte, die ich mein ganzes Leben lang gesungen haben. Aber sie sind für mich nicht so sehr Botschaft einer religiösen Einstellung als vielmehr eine Möglichkeit die Historie, die historischen Geschichten aufleben zu lassen. Diese Geschichten hängen meiner Meinung nach nicht unmittelbar mit der Religiösität des Sängers oder des Zuhörers zusammen.

Wobei Bach sicherlich einer der frömmsten Komponisten gewesen ist, die es auf der Welt je gegeben hat.
Ja, genau.
Wahrscheinlich hat er seinen Sitz ganz weit oben im Himmel schon von vornherein reserviert bekommen.
Er schreibt nicht umsonst über die h-Moll-Messe: "Solo deo gloria!" Das ist richtig. Aber ich weigere mich eigentlich ein bisschen zu sagen, eine Matthäuspassion könne nur ein Protestant oder ein christlich-religiöser Mensch verstehen. Warum soll nicht auch ein Inder seine Empfindungen bei dieser großartigen Musik haben können?

Bachs Musik ist die absolute Musik überhaupt.
Das glaube ich auch.
Ich meine, dass seine Musik im Grunde genommen jeder anderen Kultur vermittelbar ist. Sie selbst erfahren das ja ständig, wenn Sie diese Musik in fernen Ländern singen. In dem Augenblick, in dem diese Musik erklingt, machen die Menschen auf.
Der Unterschied zwischen Deutschland und dem Ausland ist eigentlich nur der, dass in Deutschland immer gerne jeder besser weiß, wie Bach zu klingen hat, wie Bach gespielt und gesungen werden muss, während die Ausländer Bach viel unbefangener aufnehmen. Ich halte diese Eigenschaft im Ausland für sehr schön.

"Bei Bach, Schubert, Mozart bin ich zu Hause", haben Sie einmal gesagt. Bei Schubert sind Sie insbesondere zu Hause, wie man vielleicht sagen darf. Sie haben ja mit der "Schönen Müllerin" unglaubliche Erfolge gehabt. Es gibt sehr, sehr viele Versionen der "Schönen Müllerin" von Ihnen, auch mit ganz unterschiedlichen Begleitungen jeweils: Das reicht vom Piano über das Hammerklavier bis zur Gitarrenbegleitung. Ich persönlich ziehe die Hammerklavierbegleitung vor, wie ich sagen muss, die finde ich besonders schön.
Ja, sie ist auch schön.

Was hat es denn mit diesem Schubert auf sich? Denn das ist ja im Grunde genommen immer herzzerreißend und unendlich traurig. Gleichzeitig ist diese Musik aber meiner Meinung nach immer unglaublich tröstlich.
Das ist wirklich ein Phänomen. Ich glaube, die Größe Schuberts liegt darin, dass er versteht Kunst zu machen und sie trotzdem volkstümlich zu halten. Aber "volkstümlich" ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck: Besser wäre es, "volksnah" bzw. "verständlich" zu sagen.
Seine Musik ist so einfach wie großartig.
Ja, auch jeder nicht musikalisch vorgebildete Mensch findet sofort Kontakt zu Schubert. Man muss sich mal überlegen, dass ein Lied wie "Am Brunnen vor dem Tore" das Lieblingslied der Japaner ist. Wenn man das weiß, dann kann man sich in etwa vorstellen, warum diese ganz einfache Melodie, die wohl heute noch jeder junge Mensch kennt und kann, eine solche Wirkung, einen solchen Ausdruck hat.

Da gibt es ja auch dieses Zwischenspiel zwischen der ersten Strophe und der zweiten Strophe.

Ja, das auf das Moll zuführt.
Da läuft es einem doch eiskalt über den Rücken, wenn man diesen Tönen folgt.
Ja, ich glaube, das Geheimnis von Franz Schubert besteht einfach darin, dass er einen sehr großen Hörerkreis gefangen nehmen kann. Bei Bach ist das nämlich manchmal doch etwas spezieller.

Dabei ist es ja so, dass man sagen muss, dass die Texte der Schubertlieder – wie dann auch die Texte von Lenau und anderen für die Schumannlieder – eigentlich unglaublich überholt sind, wie man sagen kann: Sie haben mit unserer Zeit nichts zu tun. Trotzdem haben die Menschen beinahe Tränen in den Augen, wenn es in diesen Liedern um Leid, um Liebe, um Abschied und andere urmenschliche Situationen geht.
Ja, das stimmt. Ich habe ja übrigens die "Winterreise" erst sehr, sehr spät in Angriff genommen.
Erst mit 50 Jahren.
Das war deshalb so, weil ich mich davor einfach noch nicht in der Lage gesehen habe, diese Welt Schuberts nachzuvollziehen. Ich verstehe das alles eigentlich erst heute so richtig: Man muss wirklich erwachsen werden dazu. Vielleicht muss man sogar schon mal in der Nähe des Todes gestanden haben oder sich zumindest eingehend damit beschäftigt haben, um diese Welt, um diese "Winterreise" verstehen zu können. Aber es gilt ja nicht nur für die "Winterreise", das gilt für viele andere Lieder genauso.

Wobei das Unglaubliche ja darin besteht, dass Schubert über 600 Lieder geschrieben hat: Im Grund genommen ist jedes davon "zu Herzen gehend" und ein Juwel. Die "Winterreise" haben Sie also erst mit 50 Jahren in Angriff genommen. Sie haben ja eine Tenorstimme, während dieses Stück doch häufig auch im Bariton gesungen wird. Lotte Lehmann hat sie sogar im Sopran gesungen. Fühlen Sie sich denn mit Ihrem Tenor in der "Winterreise" ganz zu Hause?
Ja. Die Originalstimmlage der "Winterreise" war ja ein wenig an den Uraufführungssänger Vogel angepasst worden: Schubert hat vier Lieder noch etwas höher gelegt, damit der Baritontenor Vogel die richtige Lage bekommen hat. Die Originallage ist für meine Begriffe natürlich schon die Lage, die klanglich am wirkungsvollsten ist. Aber das kann natürlich auch daran liegen, dass ich nun einmal Tenor bin. Die Basslage hat ihre großen Stärken in einigen Liedern, die eben nicht diesen Baritontenorumfang haben, wie man sagen kann. Aber im Großen und Ganzen glaube ich schon, dass Schubert in vollem Bewusstsein diese Tenorlage geschrieben hat, dass er diese Lieder im Tenorschlüssel geschrieben hat. Auf der anderen Seite kann ich natürlich unsere weiblichen Sänger schon verstehen, dass sie so einen Zyklus auch singen wollen.

Ja, warum nicht. Kommen wir nun zu Mozart, bei dem Sie sich ja auch zu Hause fühlen. Mozart ist Opernkomponist, aber Sie haben doch einmal gesagt, dass Sie mit der Oper eigentlich am wenigsten am Hut haben. Ein Sänger kann aber wohl ohne Mozart gar nicht leben. Sie haben ja auch tatsächlich alle schönen Rollen der Mozartopern gesungen. Wann begann denn für Sie der "Mozart-Parcours"?
Er begann eigentlich schon sehr früh, meine erste Rolle war der Belmonte in der "Entführung aus dem Serail": noch in Dresden als ganz junger Anfänger und auch mit einem gewissen Wagnis. Denn dieser Belmonte hat es in sich, er ist nicht so ganz einfach. Aber wie das halt immer so ist: Wenn man jung ist und noch nicht weiß, wie schwer diese Rolle ist, dann geht man mit viel größerer Unbefangenheit an so etwas heran. Ich habe damals jedenfalls den Belmonte gesungen, als wäre das kein Problem. Später, im Alter, habe ich mich vor dieser Partie viel mehr gefürchtet, weil sie technisch wirklich sehr tückisch war. Aber die "Entführung" war ohnehin so etwas wie ein roter Faden durch meine Laufbahn. Denn ich habe an fast allen Theatern damit debütiert. Ich habe damit in München debütiert, in Wien, in Stuttgart, in Frankfurt, in Hamburg. In Köln war es die "Così fan tutte". Die "Entführung" hat jedenfalls am Anfang für mich den entscheidenden Ruck nach vorne gebracht. Die Art und Weise, wie man einen Mozart singt, ist ja nicht ganz unverwandt mit der bei Bach. Insofern lag mir also auch der Mozart: Das ist instrumentales Singen mit emotionaler Beigabe.

Dieses Stichwort des instrumentalen Singens sollten wir vielleicht noch ein klein wenig näher hinterfragen. Denn darauf haben Sie immer großen Wert gelegt: Sie haben Wert darauf gelegt, die Stimme als ein Instrument zu betrachten und zu führen.
Ja, so war ja auch die Entwicklung. Denn bevor es überhaupt Instrumente gegeben hat, war die Stimme schon da. Die Stimme wurde immer wie ein Instrument behandelt. Vor allem in der Zeit der Barockmusik und auch lange später noch war das quasi vibrationslose Singen das Muss, die Schule. Dadurch kam es natürlich auch zu einer ungemein großen Sauberkeit in der Intonation. Wir wissen ja von Palestrina, wie schwer es war, Musik in der Kirche zu machen: Auch diese etwas emotionslose Art des Singens, die in der Kirche gefragt war, hat sich in dieser Zeit durchgesetzt. Aber das ist nicht unbedingt der Grund dafür, warum ich so sehr Wert auf das instrumentale Singen lege. Ich möchte lediglich, dass man den Sänger wie einen Instrumentalisten betrachtet und behandelt. Leider sind die Voraussetzungen dafür im Studium, ich habe das am Anfang schon gesagt, nicht unbedingt vorhanden, wenn man sich nicht selbst darum kümmert. Wenn man jedoch heute einen Mozart singt, meinetwegen eine Arie wie "Dalla sua Pace" aus dem "Don Giovanni", dann ist es geradezu eine Notwendigkeit, dass die Stimme nicht flackert und keine Tremolos und Vibrati produziert in dieser von sich aus wirkenden Arie, die Mozart ja mit der größten Einfachheit komponiert hat und die gerade deswegen so schwer ist. Denn solche Tremolos usw. würden den musikalischen Genuss nur stören.



Gab es da gelegentlich auch Konflikte mit Dirigenten?
Sagen wir mal so: Es gab ab und zu mal unterschiedliche Auffassungen darüber. Aber ich glaube, dass im Grunde genommen heutzutage alle Dirigenten bereits der Meinung sind, dass eine menschliche Stimme auch eine instrumentale Behandlung verlangt. In der Wagnerliteratur z. B. lässt es sich natürlich gar nicht vermeiden, dass das anders gehandhabt wird. Dort ist das aber möglicherweise auch angebracht. Denn dort ist der Ausdruck dermaßen emotional aufgeladen, dass eine Stimme ein ganz bestimmtes Timbre bekommt: Diese Timbre ist dann eben auch immer mit Vibrato verbunden.

Sie haben viele, viele Mozartrollen gesungen. Welche Rolle mochten Sie denn dabei am meisten? Welche lag Ihnen denn am meisten?
Die Rolle, die ich am meisten geliebt habe, war der Ferrando in "Così fan tutte".
Ihn haben Sie ja unglaublich oft gesungen.
Ich habe diese Rolle aufgrund ihrer vielen Verwandlungsmöglichkeiten so sehr geliebt. Denn dort liegt ja wirklich alles beieinander: Trauer, Freude und Spaß. Das ist vielleicht die Rolle, die ich neben dem Tamino am häufigsten gesungen habe. Der Tamino war aber vergleichsweise nicht so interessant: Das ist mehr oder weniger eine Partie, die man irgendwie zwei Akte lang lediglich durchstehen muss.
Aber sie hat Ihnen doch Spaß gemacht.
Ja, das stimmt schon, aber diese Rolle war einfach stimmlich nicht so anspruchsvoll. Ich sehe da in "Così fan tutte" viel, viel mehr Möglichkeiten des Theatermachens. Ansonsten habe ich ja das ganze Mozartrepertoire gesungen: auch viele seiner Jugendopern, die manchmal jedoch nur auf Schallplatte.
15 Rollen! Das war für mich die Oper: der Mozart! Sie haben ja schon angemerkt, dass ich keine so große Liebesverbindung zur Oper hatte: Ich kann Ihnen sagen, dass sich das vielleicht doch eher auf die Äußerlichkeiten der Oper bezieht.
Auf die Äußerlichkeiten des Opernbetriebs?
Ja, das auch, aber vor allem auch auf die Äußerlichkeiten der Regie. Da werden Dinge von einem verlangt, bei denen man körperlich nicht mitkommt, denen gegenüber man einfach eine Abneigung hat.

Sie sind ja auch mal gefragt worden, ob Sie nicht Regie machen wollen. Sie haben geantwortet: "Um Gottes Willen, lasst mich damit in Frieden, das mache ich nie!"

Das Theater ist heute sicherlich eine ganz andere Welt geworden. Der Showeffekt steht viel mehr im Vordergrund. Es ist schade, dass gerade auch in den Mozartopern die Musik heutzutage einfach zu kurz kommt. Wenn Sie das in den Zeitungen, in den Pressemeldungen verfolgen: Da wird in drei große Blöcke über die Regie gesprochen, während erst ganz am Schluss eine Erwähnung kommt, wer die Sänger waren und wer der Dirigent war. Diese Art der Berichterstattung zeigt uns eigentlich schon deutlich, wie die Oper heutzutage gewichtet ist.

Das hat einerseits mit der Berichterstattung zu tun, aber andererseits auch mit dem Event der mit der Oper, also damit, wie Oper heutzutage gemacht wird. Das heißt, eine Inszenierung muss heute knallen, muss bunt sein, muss Tabus brechen usw.
Sie muss nicht gut sein, aber sie muss wirken in dieser Hinsicht: Jeder Verriss bringt den Regisseur weiter!

Sie haben natürlich auch Richard Strauss gesungen ebenso wie een Paar Wagnerrollen wie z. B. den Loge, den Steuermann. Eines Tages haben Sie jedoch gesagt: "Na ja, irgendwann einmal muss man sich ja von der Oper verabschieden." Sie haben das mit Ihrem 65. Geburtstag getan. Sie meinten, dass Sie der Oper eigentlich keine Träne nachweinen. Trotzdem werden Sie auch als Opernsänger im Gedächtnis bleiben, denn Sie haben viele dieser Rollen auch auf Platte bzw. CD gesungen. Man sagte ja auch, Sie hätten das Erbe von Wunderlich angetreten – und Wunderlich hatte mit der Oper ja sehr viel zu tun.
Ja. Aber über diesen Vergleich mit Wunderlich war ich nie so richtig glücklich dabei. Denn Wunderlich war ja doch ganz anders veranlagt. Er hatte eine viel jugendlichere Tenorstimme, in einer dramatischeses Fach gehend. Die Oper war und ist für mich natürlich immer eine Möglichkeit gewesen, das Ausdrucksvermögen der menschlichen Stimme zu zeigen. Es ist ja nicht so, dass ich Regie grundsätzlich nicht mag. Ich bin bloß dafür, dass auch die Stimme als Regieeffekt mit einbezogen wird.
Quasi eine Person ist, die Stimme.
Ja. Mir geht es darum, dass der Sänger zeigt, dass er auch in der Stimme Verwandlungsfähigkeit in der Stimme hat – ohne irgend so eine große Bewegung mit den Händen oder dem Körper. Das ist das, was mich immer an der Oper gereizt hat – vor allem wenn ich an den Palestrina von Pfitzner denke.
Eine schwierige Rolle.
Richtig, aber in dieser Rolle waren eben auch unglaublich viele Schattierung in der Behandlung der Stimme möglich und nötig, sodass ich im Hinblick auf die Personenregie eigentlich gar nicht viel machen musste.

Sie haben das Dirigieren studiert und Sie haben in den vergangenen Jahren auch tatsächlich sehr viel dirigiert. Sie haben z. B. die ganzen weltlichen Kantaten Bachs als Dirigent und Sänger aufgenommen. Wie fühlt man sich denn als Dirigent, der gleichzeitig auch Sänger ist? Zunächst einmal stockt das Publikum dabei ja meistens ein wenig und sagt: "So, jetzt will der auch noch dirigieren. Der soll doch weiter singen!"
Ja, da heißt es dann manchmal: "Was? Bekommt er den Hals nicht voll genug?"
Bei Ihnen war das Dirigieren jedoch schon immer auch mit angelegt.
Der Ausgangspunkt war eigentlich ein ganz anderer. Ich wurde zu Beginn der achtziger Jahre in Dresden gebeten, die Bach'schen Passionen aufzunehmen: nur als Dirigent bei einer Schallplattenaufnahme. Da ich aber während der Proben die Vorgaben des Evangelisten immer selbst gesungen habe - vor dem Orchester stehend und den Chor dahinter –, kam dann von der Leitung der Schallplattenfirma, Deutsche Schallplatten, damals noch DDR, der Vorschlag, ich solle den Evangelisten doch gleich selbst mitsingen. Es ist ja nun so, dass sich das recht gut machen lässt: Das ist kein Problem, das geht. Dies haben wir also so gemacht und das Ganze ist auch sehr gut angekommen, sodass dann sogar der Wunsch laut wurde, dass wir doch bitte aus dieser Aufnahme auch eine Aufführung machen möchten. Dies haben wir dann in Dresden auch so probiert. Es musste dafür eine ganz neue Aufstellung gefunden werden, denn ich kann da ja nicht mit dem Rücken zum Publikum stehen. Ich habe dabei also die Aufstellung kreiert, dass das Orchester im Halbkreis vor mir steht, ich hinten in der Mitte auf das Publikum zu singe. Der Chor steht dabei dann rechts und links hinter mir. Diese Aufstellung hat sich dermaßen bewährt, dass ich das bis heute noch mache. Ich fahre nächste Woche nach Rom und mache mit der Santa Cecilia dort die Johannespassion auf diese Weise. Mit dieser Aufstellung bin ich jetzt wirklich schon durch die ganze Welt gereist, die zugegebenermaßen auch eine gewisse Besonderheit ist und vielleicht auch deswegen gerne dem Publikum dargebracht wird. Aber so geht es eigentlich. Das Ganze geht natürlich nur dort, wo ich der Evangelist bin. Wenn ich Arien zu singen hätte und ich mich dafür jedes Mal umdrehen müsste, dann wäre das wirklich sinnlos. Den Evangelisten zusammen mit dem Dirigieren zu machen, macht hingegen Sinn, denn der Evangelist hat die Sache wirklich in der Hand. Aber sonst nicht.

Mozart ist für Sie zu Ende als Opernkomponist. Was wollen Sie jedoch noch dirigieren, was Sie bis jetzt noch nicht dirigiert haben?
Da gibt es eigentlich kaum etwas. Ich beschränke mich jetzt eher auf das Eingemachte, wenn ich das so sagen darf. Wir haben ja auch bald wieder ein Mozartjahr: Da ist schon wieder sehr viel geplant: Mozartrequiem, c-Moll-Messe, Davidde Penitente. Ich singe allerdings auch gerne eine ganze Gruppe im Liederabend mit Mozartliedern. Da sind wirklich ganz wunderbare und auch tiefgehende Stücke mit dabei. Man unterstellt dem Mozart ja gerne, dass er solche Sachen komponiert hat als wären das lediglich ein paar kleine Blumensträuße, die er irgendwohin mitbringt. Nein, nein, da ist schon sehr viel Liedempfinden mit dabei, das wir später dann bei Schubert, Schumann und Brahms ebenfalls finden.

Ich bedanke mich sehr herzlich für dieses Gespräch, Peter Schreier. Ich wünsche Ihnen noch viele Dirigate und natürlich Liederabende von Bach bis Schumann und vielleicht auch noch ein bisschen Brahms. Alles Gute für die nächsten Jahre.
Vielen Dank.

back / zurück